Das Schweigen des Ludwig W.

„Gott ist angekommen. Ich habe ihn persönlich vom Bahnhof abgeholt.“ Mit diesen Worten kommentierte einst der Ökonom John Maynard Keynes die Ankunft Ludwig Wittgensteins in Cambridge. Neue Dokumente zeigen „Gott“ in Nahaufnahme: Wittgenstein, wie er wirklich war.

Der Campus der Universität Cambridge, 1941. In einem karg eingerichteten Zimmer sitzen Ludwig Wittgenstein und sein Freund und Schüler, Yorick Smythies. Die beiden unterhalten sich, wie so oft in dieser Zeit - über Philosophie und über das Leben: Welches Thema der Philosophie zuzurechnen ist, und welches dem Leben, ist nicht so klar. Denn irgendwie ist bei Wittgenstein alles Sprachspiel, alles Philosophie.

Da zieht Wittgenstein ein Passfoto aus der Tasche und reicht es seinem Gegenüber. Smythies sieht das Foto an und erblickt, wie er später notieren sollte: „einen Mann mit halb offenem Mund, starrem Blick und depressivem Gesichtsausdruck“. Der weltberühmte Philosoph, so Smythies, „sieht schäbig aus, schwachsinnig und kriminell.“ Smythies Reaktion: Er bekommt einen Lachanfall - 15 Minuten lang.

Wittgenstein sieht seinem Schüler mit regungsloser Miene zu. Und sagt, als sich dieser endlich beruhigt hat, den einen Satz: „Smythies, das ist nicht lustig, ich kenne dieses Gesicht nur zu gut.“

Mitschreiben war verboten

Diese Episode entstammt einem Tausende Seiten umfassenden Konvolut, angefertigt von Yorick Smythies. Die Mitschriften und Notizen geben vor allem die Inhalte der bis vor Kurzem kaum bekannten Whewell’s Court Lectures wieder, die Wittgenstein in den Jahren 1938 bis 1941 gehalten hatte. Die Dokumente sind in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes.

Erstens, weil Mitschreiben in Wittgensteins Vorlesungen an sich verboten war, es sei denn, man war - so wie Smythies - mit dem Meister befreundet. Und zweitens, weil die Mitschriften die Denkbewegungen des Philosophen im Rohzustand zeigen. Man könnte auch sagen: Wittgenstein im director’s cut.

Handschriftliche Notizen

Volker Munz

Ausschnitt aus Smythies’ Mitschriften. Vorlesungsthema: „Belief“

„Wenn Wittgenstein Texte schrieb, dann hat er an diesen gebastelt, er hat Passagen gestrichen, herausgeschnitten und mit anderen zusammengeklebt. Das war ein unglaublich diffiziler und subtiler Editionsprozess“, sagt der Philosoph Volker Munz von der Universität Klagenfurt.

Munz hat sich in den vergangenen Jahren mit seinem Kollegen Bernhard Ritter durch Smythies’ Notizen gearbeitet und dort wertvolle Hinweise darauf gefunden, was Wittgenstein mit seinen knappen und bisweilen kryptischen Bemerkungen gemeint hat. Ein Beispiel dafür ist etwa Paragraf 309 der „Philosophischen Untersuchungen“. Dort heißt es:

Was ist dein Ziel in der Philosophie?
Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.

Der Fliegenparagraf ist eine der bekannteren Metaphern in Wittgensteins Werk. Die im Glas gefangene Fliege verhält sich wie der Philosoph, der an einem Problem kaut und sich dabei selbst eine Falle stellt. So eine Falle könnte etwa der Satz sein: „Es existiert nichts außer meinem Bewusstsein.“

Probleme nicht lösen - sondern auflösen

Vielleicht ist der sogenannte Solipsist, der diesen Satz vertritt, nur eine Erfindung der Philosophen. Sicher ist, dass es, sofern man ihn tatsächlich ernsthaft verträte, kein logisches Mittel gäbe, ihn zu widerlegen. Logisch betrachtet ist der Satz die perfekte Falle.

Und dennoch gibt es einen Ausweg. Die Anleitung steht in Smythies’ Mitschrift: Wenn man das Problem nicht lösen kann, dann muss man es auflösen - wie eine Brausetablette.

Ö1 Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag im Dimensionen Magazin, 6.5., 19:05 Uhr.

„Wittgenstein war nie der Auffassung, dass es Lösungen für philosophische Probleme gibt, sondern dass wir die philosophischen Probleme zum Verschwinden bringen müssen“, sagt Munz. Das gelingt laut Wittgenstein dann, wenn man bereit ist, die Faszination für ein Problem aufzugeben. Die Faszination ist für den Philosophen so wie das Licht für die Fliege: Eine ungeheuer anziehende Kraft, aber auch eine gefährliche.

Er selbst, bekannte Wittgenstein, sei auch einmal von solipsistischen Anwandlungen erfasst worden, habe aber seine ewig kreisenden Gedanken wieder befreien können: durch Abdunkeln des Fliegenglases, durch Abkehr vom Faszinosum.

Minutenlanges Schweigen

So gesehen steht Wittgensteins Philosophie dem Alltagsverstand näher als der Wissenschaft. Es geht ihm nicht um Beweise oder endgültige Befunde. Es geht ihm letztlich um die Orientierung in dieser vieldeutigen Welt - und wohl auch: um das Wohlbefinden des grüblerischen Ichs.

Wittgensteins Vorlesungen waren genau genommen keine Vorlesungen, sondern eher „Vordenkungen“. Er hatte den Anspruch, seine Gedanken spontan und in Echtzeit zu entwickeln - hier und jetzt, erklärt Bernhard Ritter: „Wittgensteins Schülerin Elizabeth Anscombe hat einmal über seine Vorlesungen gesagt: Das war keine Aufführung eines Klavierwerks durch einen Pianisten - das waren eher Fingerübungen.“

Mit „Lehrveranstaltungen“ im heutigen universitären Sinne hatten die Wittgenstein’schen Seminare wohl wenig zu tun. Man traf sich in Privaträumen - unter anderem dem Zimmer von Smythies, und da saß nun dieser ausgewählte Kreis von Studenten und lauschte andächtig, wie Professor Wittgenstein laut nachdachte.

Wenn er es denn tat: Bisweilen verfiel Wittgenstein bei seinen Vorträgen in minutenlanges Schweigen. Bis er wieder einen Satz hervorstieß, der ihm ein Weiterdenken ermöglichte.

Die Niederschrift dieses Ringens um den nächsten, richtigen Gedanken erscheint im Sommer beim Verlag Wiley-Blackwell in Buchform. Titel: „The Whewell’s Court Lectures, Cambridge 1938 – 1941“.

Robert Czepel, science.ORF.at

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