Habermas hält an Idee eines „Kerneuropa“ fest

Auch nach dem „Brexit“-Votum verteidigt der Philosoph Jürgen Habermas (87) die Idee eines sogenannten Kerneuropas in der Eurozone. „Es stimmt, gegen diesen Plan wird der Vorwurf der ‚Spaltung‘ erhoben“, dieser sei aber unbegründet.

„Denn erst ein funktionierendes Kerneuropa könnte die in allen Mitgliedstaaten polarisierten Bevölkerungen vom Sinn des Projekts überzeugen.“ Dann "könnten auch jene Bevölkerungen, die einstweilen lieber an ihrer Souveränität festhalten wollen, nach und nach für den jederzeit offenstehenden (!) Beitritt gewonnen werden“, schrieb Habermas in einem E-Mail-Interview der Wochenzeitung „Die Zeit“.

Voraussetzung für ein solches engeres Europa ist laut dem Soziologen und Diskurstheoretiker: „Die Bundesrepublik (Deutschland) müsste ihren Widerstand gegen eine engere finanz-, wirtschafts- und sozialpolitische Kooperation aufgeben, und Frankreich müsste zu entsprechenden Souveränitätsverzichten bereit sein.“

Gefühl der Ohnmacht führt zu Hass

Jürgen Habermas beobachtet mit Sorge die neuen rechten Protestbewegungen in Europa: „Das Votum der britischen Wähler spiegelt auch etwas vom allgemeinen Krisenzustand der EU und ihrer Mitgliedstaaten. In den Ergebnissen der Wähleranalyse wiederholt sich das Muster, das wir bei der Wahl des österreichischen Bundespräsidenten und ebenso bei unseren letzten Landtagswahlen kennengelernt haben. Die vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung spricht dafür, dass es dem populistischen Lager gelungen ist, Teile der Nichtwähler zu mobilisieren.“ Sie rekrutierten sich überwiegend aus den Randgruppen der Bevölkerung, die sich „abgehängt“ fühlten, meint der Philosoph.

Die Ablehnung der Europäischen Union erklärt sich Habermas wie folgt: „Die Wahrnehmung der drastisch gewachsenen sozialen Ungleichheit und das Gefühl der Ohnmacht, dass die eigenen Interessen auf der politischen Ebene nicht mehr repräsentiert werden, schaffen den Motivationshintergrund für die Mobilisierung gegen Fremde, die Abkehr von Europa, den Hass auf Brüssel.“

“Merkelsche Politik der Einschläferung“

Erneut kritisierte Habermas Bundeskanzlerin Angela Merkel und viele Medien in Deutschland - vor allem in Bezug auf die „politisch sehr bewegte Zeit der Euro-Krise“ und die oft als alternativlos dargestellte „Krisenpolitik der Bundesregierung“ und das „technokratische Vorgehen“, das nur aufschiebende Wirkung habe.

„Ich habe die Perspektive eines teilnehmenden Zeitungslesers und frage mich, ob sich der Schaumteppich der Merkelschen Politik der Einschläferung ohne eine gewisse Anpassungsbereitschaft der Presse über das Land hätte ausbreiten können“, schrieb Habermas, der einst Forschungsassistent bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno („Dialektik der Aufklärung“) war, dem Interviewer Thomas Assheuer. Der gedankliche Horizont schrumpfe, wenn nicht mehr in Alternativen gedacht werde, meint Habermas.

Die sogenannte Flüchtlingskrise empfindet der Denker, der weltweit zu den meistrezipierten Philosophen und Soziologen gehört („Theorie des kommunikativen Handelns“, „Der philosophische Diskurs der Moderne“) als Wiederbelebung der Gesellschaft: „Die Flüchtlingspolitik hat die Meinungen in der deutschen Bevölkerung und die Stellungnahmen der Presse auch hierzulande gespalten. Damit gingen lange Jahre einer beispiellosen Lähmung der politischen Öffentlichkeit zu Ende.“

science.ORF.at/APA/dpa

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