Europa, die Flüchtlinge und die Krise

Grenzen sichern, Mauern bauen, Fluchtrouten schließen: Auch mit diesen Antworten wird man die Flüchtlingskrise nicht lösen, meint die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot in einem Gastbeitrag. Ihr Gegenrezept: Afrika modernisieren und in die Bildung von Frauen investieren.

Von der serbischen Menschenrechtsaktivistin Borka Pavićević, Gründerin und Leiterin des Centre for Cultural Decontamination, stammt der Satz: “The refugees come to ask the European who we are. And we need to answer them.”

Porträtfoto der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot

Donau-Uni Krems

Die Autorin

Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab in Berlin. Seit April 2016 hat die Politikwissenschaftlerin die Professur des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Uni Krems inne.

Europa bzw. die Europäer haben diese Antwort noch nicht gegeben, weswegen das Thema Migration auch im Mittelpunkt des diesjährigen Forums Alpbach stehen dürfte. Angela Merkels geflügeltes „Wir schaffen das” vom Sommer 2015 endete erst in der Schließung der Balkanroute – die den osteuropäischen Staaten überlassen, von der CSU aber goutiert wurde; dann im Abkommen der EU mit der Türkei vom März 2016, in dem man der Türkei gegen Geld die Grenzsicherung überließ bzw. die Türkei de facto dafür bezahlt wurde, nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Griechenland zu lassen.

Die Politik eines ‘Refugees Welcome’ war vom politischen Protest weggefegt und von der Realität überholt worden – wiewohl sie in ihrer Aussage bis in den Sommer 2016 hinein nie offiziell widerrufen wurde. Der Flüchtlingszustrom ist daraufhin in den letzten Monaten deutlich geringer geworden. Für Deutschland rechnen die Kommunen in diesem Jahr mit einer dreiviertel Million. Rückläufige Zahlen sollen die Bevölkerung beruhigen.

Migrationsdruck wird stark zunehmen

Erst kürzlich ließ der österreichische Außenminister Sebastian Kurz in kalkuliert provokanter Manier verlauten, das Kartenhaus der europäischen Flüchtlingspolitik sei zusammengebrochen, und forderte, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei nach dem Putsch vom Juli 2016 aufzukündigen. Sebastian Kurz mahnte, die EU müsse ihre Außengrenzen selber schützen und dürfe sich nicht in die Abhängigkeit der Türkei begeben. Das ist sicher richtig. Eine Antwort auf die Frage von Frau Pavićević ist es noch nicht.

Denn was soll Schutz bedeuten, wenn das letzte Jahr vielleicht erst der Vorgeschmack war auf das, was kommt? Was, wenn die vorübergehende ‘Entspannung’ der Situation an den europäischen Grenzen vielleicht keine dauerhafte ist?

Dazu ein paar Zahlen: Das Berlin-Institut für Bevölkerungsentwicklung erwartet laut einer Untersuchung der Bevölkerungsentwicklung in Afrika und im Nahen Osten, dass der Migrationsdruck mittelfristig stark zunehmen wird, und unterstreicht die Gefahr einer Destabilisierung der Südflanke Europas. Das Institut spricht gar von einem ‘Pulverfass vor den Toren Europas’. Wie also schützt man sich vor einem Pulverfass – das sicherlich das Potenzial hat, verschlossene Tore (als Sinnbild für geschützte Grenzen) zu sprengen?

Derzeit leben etwa 370 Millionen Menschen in den 19 Ländern der Mena-Region (Middle East North Africa). Bis zum Jahr 2030 dürfte die Zahl um fast 100 Millionen steigen, so die Prognose der Demografen. Allein die Zahl der Ägypter wächst in den fünfzehn Jahren um etwa 28 Millionen und die der Jeminiten um rund neun Millionen, ein Drittel mehr als heute.

Das Hauptproblem dabei ist, dass das Bevölkerungswachstum viel schneller ist als das Jobwachstum. Jedes Jahr drängen etwa fünf Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, doch nur eine Minderheit von etwa 40 Prozent findet eine Stelle, und die ist meistens schlecht bezahlt. Es sind Stellen im Dienstleistungssektor ohne soziale Absicherung, wie etwa Obstverkäufer auf dem Basar, wobei Frauen praktisch gar keine Stellen bekommen, was wiederum die Geburtenrate steigert.

Jugendüberschuss als Ursache von Konflikten

Nimmt man die Zahlen für die Mena-Region (also Arabien) und Afrika zusammen, werden sie noch dramatischer. Derzeit leben dort 1,3 Milliarden Menschen. Bis 2050 dürfte sich die Zahl auf 2,7 Milliarden verdoppeln, so die mittlere UNO-Bevölkerungsprognose. Vor allem in den ärmsten Ländern ist die Kindezahl weiterhin extrem hoch, sodass sich die Bevölkerungszahl dort verdreifachen dürfte. Frauen in Niger bekommen im Durchschnitt 7,6 Kinder, im Kongo mehr als sechs, in Nigeria 5,6. Allein Nigeria könnte so bis 2050 auf rund 440 Millionen, bis 2100 gar auf 900 Millionen Menschen wachsen.

Forum Alpbach

Im Rahmen der Wirtschaftsgespräche des Europäischen Forums Alpbach hält Ulrike Guérot am 30.8. einen Vortrag. science.ORF.at stellt einige Vorträge in Form von Gastbeiträgen vor. Bisher erschienen:

Links

Die Folge ist das, was Experten einen sogenannten ‘Youth Bulge’ nennen, ein gewaltiger Jugendüberschuss. In politisch ohnehin instabilen Ländern gilt dieser Jugendüberschuss als wichtige Ursache von Verteilungskonflikten, Instabilität - und letztlich Krieg und Terror. Aus weiblicher Perspektive möchte man fast anmerken wollen: zu viel unkontrolliertes und ungebundenes Testosteron. Ein sehr hoher Anteil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen wirkt destabilisierend, wenn die jungen Leute keine Arbeitsplätze finden. Ihr Frustrationspotenzial wächst, ebenso das Risiko von Unruhen und Aufständen bis hin zu Bürgerkriegen.

Die Konfliktgefahr kann in einem sogenannten ‘Kriegsindex’ erfasst werden. Dieser drückt aus, wie viele junge Leute (zwischen 15 und 19 Jahren) es relativ zur Zahl älterer Leute (von 55 bis 59 Jahren) gibt. In Deutschland z.B. liegt der Kriegsindex bei 0,66 (auf 1.000 Ältere kurz vor der Rente kommen nur 660 Jugendliche), das Konfliktpotenzial um Arbeitsplätze ist also minimal. In Subsahara-Afrika hingegen kommen hingegen auf 1.000 Ältere je nach Land etwa 3.500 bis 7.000 Junge, die Arbeit suchen. Der ‘Kriegsindex’ liegt also in Uganda etwa bei sieben, in Mali, Ruanda oder Afghanistan bei sechs und in Palästina bei fast sechs. Wo Krieg ist, da will man fliehen. Wo nichts ist, da will man weg als junger Mensch, vor allem als junger Mann. Wer keine Perspektive hat, ist möglicherweise bereit, sich als Terrorist in die Luft zu sprengen – zumal wenn er als Flüchtling in Europa dann auch wieder keine Chance hat.

Sicherheit ist kein Wert an sich

Was heißt das jetzt für Europa, seine Flüchtlingspolitik, seine Grenzen und deren Schutz? Es heißt vieles, und das Viele ist komplex. Mit Grenzschutz allein jedenfalls wird diese Herausforderung vor den Toren Europas nicht zu lösen sein.

Erstens sollte man sich daran erinnern, dass das Mittelmeer auf allen alten europäischen Karten als Mare Nostrum, als unser Meer ausgewiesen ist. Europa ist nur die eine Seite des Mittelmeers, unseres Kulturraums, den wir seit Homer und der Odyssee immer mit der arabischen Seite geteilt haben – und wieder teilen müssen. Die Europa, jene phönizische Prinzessin, die zur Namensgeberin des europäischen Kontinents wurde, entstammt übrigens jenem Landstrich, der heute Syrien ist. Eine bis zu den Zähnen bewaffnete EU-Frontex Marine kann darum nicht die alleinige europäische Antwort auf die Flüchtlingsproblematik sein, wenn wir unseren eigenen Kulturraum nicht zerstören wollen.

Ö1 Hinweise

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2016 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1 Club erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.

Zweitens ist angesichts der aktuellen Diskussion über Flüchtlinge und Terrorgefahren für Europa, die seit den letzten Anschlägen in Nizza und München oft zu leichtfertig amalgamiert werden, und der daraus entstandenen Betonung von Verteidigung und Garantie der Sicherheit im politischen Diskurs in Europa anzumerken, dass Sicherheit kein Wert an sich ist. Sicherheit ist nice to have ist, aber eben kein Wert: Auch im Gefängnis kann man sehr sicher sein. Oder in der ehemaligen DDR. Ein europäischer Sicherheitsbegriff, der auf vermeintliche Sicherheit hinter EU-Frontex-Mauern zielt, müsste insofern problematisiert werden, als dass er die Gefahr birgt, die Freiheit als Inbegriff des europäischen Wertekanons im Gegenteil gerade zu verraten.

Von Frauen Afrikas hängt Europas Zukunft ab

Nein, die Grenzen werden nicht zu schützen sein. Wer sich schützen will, muss sich öffnen, sagt man im Yoga. Die europäische Antwort auf die Frage von Borka Pavićević muss eine andere sein, und sie wird langwierig, umständlich, politisch heikel und schwierig sein. Sie wird Elemente des europäischen Verzichts beinhalten müssen. Verzicht auf Handel z.B., der agrarische Strukturen in Afrika zerstört, wenn etwa dort europäisches Weizenmehl billiger ist als Maniok. Verzicht auf Waffenlieferungen, mit denen die Kriege in Afrika geführt werden. Verzicht vor allem darauf zu glauben, dass Europa allein ein Recht auf Wohlstand und Sicherheit hat.

Das zu begreifen, zu lehren und über die Jahre in einen fruchtbaren politischen Diskurs zu münzen, in dem wir uns die Modernisierung Afrikas zur zentralen europäischen Aufgabe machen – das wäre eine europäische Antwort auf die Frage von Borka Pavićević. Diese Antwort sollte von der Europa als Frau gegeben werden, denn bekanntlich sagen alle Entwicklungspolitiker unisono: If you want to develop a country, educate the women and give them the money.

Von den Frauen Afrikas hängt Europas Zukunft daher möglicherweise am meisten ab. Sie zu bilden und für europäische Ideale und Werte zu gewinnen, ist vielleicht die sicherste Wette, das europäische Flüchtlingsproblem, an dem Europa zu zerbrechen droht, zu lösen – und gleichzeitig den arabisch-afrikanischen Kontinent im europäischen Sinne zu modernisieren. Und es wäre eine schöne Antwort auf die Frage Borka Pavićević!

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