Kritik: Zu wenige Therapieplätze in Österreich

In Österreich fehlen laut Schätzungen zwischen 80.000 und 130.000 Therapieplätze für Kinder. Die Folge sind lange Wartezeiten, die langfristigen Schaden anrichten, wie Experten kritisieren.

Die derzeit aktuellsten Zahlen, mit denen Therapiebedarf und -angebot für Kinder und Jugendliche in Österreich bemessen werden kann, stammen aus einer 2013 im Auftrag des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger erstellten Studie. Darin wurde versucht, Daten aus dem gesundheitsökonomischen Leistungscontrolling (LEICON) mit Angaben von Therapieeinrichtungen zu kombinieren und damit auf eine Gesamtzahl zu kommen. Sowohl die Studienautorin Agnes Streissler-Führer als auch der Hauptverband selbst weisen darauf hin, dass diese Datenbasis unvollständig ist.

Vergleich mit Deutschland

Anders sieht es in Deutschland aus, wo seit 2009 eine Langzeitstudie zur Gesundheit von jungen Menschen läuft. Im Rahmen dieser KIGGS-Studie liegen detaillierte Zahlen zu Therapien vor.

Quelle: Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger, Studie erstellt von Agnes Streissler-Führer, "Ausgewählte Fragen zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch die österreichische Krankenversicherung", 2013

Österreich hat rund ein Zehntel der Wohnbevölkerung von Deutschland sowie eine ähnliche Altersstruktur und vergleichbaren Wohlstand. Um den Bedarf an Therapieplätzen in Österreich zu schätzen, hat man deshalb ein Zehntel der deutschen Zahlen genommen (in den Grafiken „Soll“) und mit den - lückenhaften - Zahlen zu Österreich („Ist Österreich“) verglichen. Das Ergebnis: Im Vergleich zu Deutschland bekommen hierzulande rund 130.000 Kinder und Jugendliche weniger eine Ergo-, Physio- und Psychotherapie sowie logopädische Behandlung.

Deutlich weniger Logopädie

Zwar werden in Österreich deutlich mehr Kinder und Jugendliche physiotherapeutisch behandelt als in Deutschland. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass unter dem Titel „Physiotherapie“ auch Ergotherapie stattfindet, bei der mit Kindern vor allem an ihrer Grob- und Feinmotorik gearbeitet wird.

Quelle: wie oben

Trotzdem zeigt sich insgesamt, dass in Österreich im Verhältnis zu Deutschland deutlich weniger Therapien gemacht werden - auch in den Prozentsätzen, wie viele junge Menschen behandelt werden. In Deutschland sind beispielsweise 4,5 Prozent in logopädischer Behandlung, in Österreich nur 1,3 Prozent.

„Lösung“: Privat zahlen

Dieser Unterschied liegt wohl kaum darin begründet, dass die österreichischen Kinder so viel gesünder sind als die deutschen. Vielmehr kritisieren Experten schon seit Jahren, dass es hierzulande zu wenige Therapieplätze gibt. Auf eine kassenfinanzierte Ergotherapie etwa wartet man bis zu eineinhalb Jahre - viel zu lang, wie Klaus Vavrik, Präsident der Liga für Kinder- und Jugendgesundheit sagt: „Das Problem ist, dass Entwicklungsfenster vorüber gehen. Jede neue Fähigkeit, jedes neues Lebensalter basiert auf dem, was vorher erlernt und erfahren wurde. Wenn Entwicklungsfenster ungenützt vorüber gehen, ist es später nicht mehr so leicht, denselben Effekt herzustellen. Er geht wirklich verloren.“

ORF Schwerpunkt

Unter dem Titel „bewusst gesund - Fit fürs Leben“ widmet sich der ORF derzeit dem Thema Kinder- und Jugendgesundheit.

An in der Kindheit versäumten Therapien leiden Menschen oft ihr ganzes Leben, etwa wenn der Schul- und später Berufserfolg ausbleibt oder körperliche und psychische Probleme bestehen bleiben. In zwei Schritten könnte diese Situation geändert werden, so der Experte: Erstens müsste der tatsächliche Bedarf an Therapien im Rahmen einer qualitätsgesicherten Studie festgestellt werden. Und zweitens müssten die Krankenkassen die Kosten für alle Kindertherapien übernehmen. Denn Eltern, die nicht monate- oder sogar jahrelang auf einen Platz für ihr Kind warten wollen, bleibt derzeit nur eines übrig: die Therapie - zumindest teilweise - selbst zu bezahlen.

Elke Ziegler, science.ORF.at

Mehr zum Thema: