Letzte Orte vor der Deportation

66.000 Juden in Österreich wurden von den Nazis ermordet. Ausgegangen ist ihre Deportation vor 75 Jahren v.a. von vier Sammellagern in Wien-Leopoldstadt: Sie stehen im Mittelpunkt einer neuen Ausstellung, die die Kuratorinnen in einem Gastbeitrag beschreiben.

Der Weg in die Vernichtung beginnt mitten in der Stadt: 1941/42 richtet SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ und einer der berüchtigsten Gehilfen von Adolf Eichmann bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas, vier Sammellager in Wien-Leopoldstadt ein. Vor dem „Anschluss“ 1938 sind 181.882 ÖsterreicherInnen Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinden (IKG), 167.249 von ihnen leben in Wien.

Über die Autorinnen

Heidemarie Uhl und Monika Sommer sind Historikerinnen am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Kuratorinnen der neuen Ausstellung.

Mit dem Inkrafttreten der „Nürnberger Rassengesetze“ am 20. Mai 1938 gelten rund 201.000 ÖsterreicherInnen als jüdisch. In Wien sind mehr als 180.000 Menschen – rund zehn Prozent der Bevölkerung – von antijüdischen Repressalien betroffen. Hier entwickelt Adolf Eichmann sein perfides Modell der systematischen Beraubung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung, die zur Emigration gezwungen werden soll. Mehr als 130.000 Menschen flüchten, rund 17.000 werden in ihren Zufluchtsländern vom NS-Regime eingeholt.

Erste Transporte im Februar 1941

Die ersten beiden Sammellager werden in jüdischen Schulen in der Castellezgasse 35 und der Kleinen Sperlgasse 2a errichtet. Vom 15. Februar bis 12. März 1941 gehen fünf Transporte mit 5.031 Jüdinnen und Juden von den beiden Sammellagern in offenen Lastwägen zum Aspangbahnhof und von dort in die kleinen polnischen Landstädte Opole, Kielce, Modliborzyce und Łagów/Opatów.

Die Deportierten dürfen sich innerhalb der Orte frei bewegen, diese aber nicht verlassen, sie sind unzulänglich mit Lebensmitteln versorgt und werden zur Zwangsarbeit einsetzt. Die meisten der im Frühjahr 1941 aus Wien Deportierten werden ab Frühsommer 1942 gemeinsam mit den polnischen Jüdinnen und Juden in den Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka ermordet.

Fotopostkarte von Maxi Reich, einer der Deportierten

Privatbesitz

Fotopostkarte von Maxi Reich, geschrieben drei Tage vor seiner Deportation

Systematische Deportationen ab Oktober

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 zielt die NS-Verfolgungspolitik nicht mehr auf Vertreibung, sondern auf Vernichtung. Die Verschärfung der antijüdischen Maßnahmen folgt Schlag auf Schlag. Ab 19. September 1941 werden Jüdinnen und Juden ab sechs Jahren verpflichtet, den gelben „Judenstern“ auf Herzhöhe zu tragen und sind damit öffentlich stigmatisiert. Ab 23. Oktober 1941 wird die Auswanderung verboten.

Die systematischen Deportationen in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager beginnen am 15. Oktober 1941 mit dem Transport von 1.005 Personen nach Litzmannstadt/Łódź. Im Juni 1942 folgt die Einrichtung der Sammellager Malzgasse 16 und 7 – beides ebenfalls ehemalige jüdische Schulgebäude, die zu diesem Zeitpunkt Altersheime der Israelitischen Kultusgemeinde sind.

Von Februar 1941 bis zum letzten der großen Deportationstransporte am 9. Oktober 1942 werden insgesamt 45.451 Menschen in 45 Transportzügen mit jeweils rund 1.000 Menschen deportiert. 989 Überlebende sind bekannt.

„Einrücken“, „ausheben“, „kommissionieren“

Ausstellung

Letzte Orte vor der Deportation - Castellezgasse, Malzgasse, Kleine Sperlgasse; Ort: Krypta des Heldendenkmals/Äußeres Burgtor-Heldenplatz; Zeit: 9. November 2016 bis 30. Juni 2017, Mo-Fr 9.00-11.30 und 12.30 bis 16.00 Uhr

Links

Die Ausstellung fokussiert auf die Schlüsselfunktion der Sammellager im perfiden „Wiener System“ der Organisation der Massendeportationen. Zunächst werden die von der „Zentralstelle“ zur Deportation Bestimmten mittels Postkarten aufgefordert, in das Sammellager „einzurücken“ – so die zeitgenössische Bezeichnung. Weil immer wieder Menschen dieser Aufforderung nicht nachkommen, wird im November 1941 begonnen, Jüdinnen und Juden in ihren Wohnungen und auf der Straße „auszuheben“. „Wie ein Planquadrat“, hat es eine Überlebende erklärt, die speziell für das Ausstellungprojekt interviewt wurde. Das von Alois Brunner in Wien eingeführte Modell der systematischen, Haus für Haus erfolgenden Aushebungen unter erzwungener Mitwirkung der Israelitischen Kultusgemeinde wird vom NS-Verfolgungsapparat in anderen Städten wie etwa Berlin übernommen.

Die Insassen des Sammellagers sind in ständiger Angst vor der sogenannten „Kommissionierung“ durch Anton Brunner, des für die Sammellager verantwortlichen Mitarbeiters der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ und seiner SS-Männer. In diesem letzten Akt der Demütigung und Beraubung wird über Zurückstellung, Entlassung oder Deportation entschieden. Bei der „Kommissionierung“ müssen die Internierten ihre Dokumente vorweisen; Heimatscheine und Reisepässe werden oft vor ihren Augen zerrissen; die Kennkarte wird mit „evakuiert am …“ gestempelt.

Der Vermögensverzicht muss unterschrieben, alle Wertgegenstände und Bargeld ausgehändigt werden. Wer als „Volljude“ gilt, hat zumeist keine Chance, der Deportation zu entkommen. Auf „Zurückstellung“ kann hoffen, wer durch nicht-jüdische Verwandte geschützt ist, eine ausländische Staatsbürgerschaft hat oder zu den Angestellten der Israelitischen Kultusgemeinde zählt.

Die einzigen Fotos aus einem Sammellager zeigen den gefürchteten „Deportationsexperten“ Josef Weiszl. Er wird 1949 in Paris zu lebenslanger Haft verurteilt, erhält später in Wien Heimkehrerfürsorge und stirbt 1984.

Wiener Stadt- und Landesarchiv, LG Wien, Vg 8c Vr 871/55

Die einzigen Fotos aus einem Sammellager zeigen den gefürchteten „Deportationsexperten“ Josef Weiszl. Er wird 1949 in Paris zu lebenslanger Haft verurteilt, erhält später in Wien Heimkehrerfürsorge und stirbt 1984.

Täter wurden kaum behelligt

Anton Brunner, ein „eiskalter Sadist, der seine Macht über Leben und Tod genoß“ - so die Holocaust-Überlebende Susanne Kriss - wird nach Kriegsende verhaftet, in Wien vor das Volksgericht gestellt, zum Tode verurteilt und im Mai 1946 hingerichtet. Sein Vorgesetzter, Alois Brunner, Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ kann nach Syrien flüchten und stirbt vermutlich 2009 oder 2010 in Damaskus. Nur wenige der für die Deportationen verantwortlichen NS-Täter werden nach 1945 vor Gericht zur Rechenschaft gezogen.

Alte Bücher in einer Bibliothek

AP Photo/Lefteris Pitarakis

Literaturhinweise

Gabriele Anderl, Dirk Rupnow: Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution. Nationalsozialistische Institutionen des Vermögensentzuges 1. Wien-München: Oldenbourg, 2004 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. 20/1)
Dieter J, Hecht, Eleonore Lappin-Eppel, Michaela Raggam-Blesch (Hg.): Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien. Mit einem Vorwort von Heidemarie Uhl, Wien: Mandelbaum 2015.
Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938 bis 1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 2000.
Hans Safrian: Eichmann und seine Gehilfen. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1995

Kleine Sperlgasse 2a, Castellezgasse 35, Malzgasse 7 und 16 – diese Adressen in Wien-Leopoldstadt sind im kollektiven Gedächtnis praktisch nicht präsent. In der Topographie der Shoah von Wien und Österreich sind das jedoch zentrale Orte. Der Großteil der mehr als 66.000 österreichischen Shoah-Opfer wurde von den vier Sammellagern aus in den Tod geschickt.

In der historischen Fachliteratur sind diese Orte bekannt. In dieser Ausstellung werden sie erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt. Einige der raren erhaltenen historischen Quellen sind zum ersten Mal öffentlich zu sehen. Interviews mit den letzten Überlebenden dieser Lager geben Einblick in diese bislang vergessenen Orte des Holocaust – mitten in Wien.

Der Ausstellungsort selbst führt zudem in die Spannungsfelder der österreichischen Zeitgeschichte. Die Krypta des Heldendenkmals wurde ursprünglich den gefallenen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs gewidmet. Nun wird hier an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Die Ausstellung leistet damit auch einen Beitrag zur Transformation des Heldendenkmals in einen zeitgeschichtlichen Lern- und Vermittlungsort.

Mitarbeit: Dieter J. Hecht, Michaela Raggam-Blesch

Gastbeiträge von Heidemarie Uhl: