Gehirn wächst auch bei Erwachsenen

Ab der Kindheit ist Schluss mit dem Gehirnwachstum, besagt ein alter Grundsatz der Neurobiologie. Stimmt so nicht, schreiben nun Forscher in einer Studie: Die Regionen für Gesichtserkennung verändern sich auch im Erwachsenenalter - und legen an Volumen zu.

Im Chinesischen heißt die Lebensphase des hohen Alters „die zweite Kindheit“. Das deckt sich durchaus mit hirnanatomischen Befunden. Denn ab etwa 70 Jahren baut das Gehirn ab und verliert merklich an Substanz.

Woraus allerdings nicht folgt, dass es mit unserem Denkorgan ab der Kindheit stetig bergab geht: Der deutsche Hirnforscher Karl Zilles hat herausgefunden, dass unser Hirn zwar mit drei Jahren fast ausgewachsen ist, bis ins Alter von ungefähr 50 Jahren aber noch um ein Prozent an Volumen zulegen kann. Dieser Zuwachs geht vor allem auf das Konto jener Regionen, die im Alltag besonders in Anspruch genommen werden.

Wie Zilles im Fachblatt „Science“ berichtet, ist das etwa in Teilen des Gyrus fusiformis der Fall, eine Windung im Schläfenlappen der Großhirnrinde. Dort legt das Gehirn unter anderem jene Informationen ab, die es für die Erkennung von Gesichtern benötigt.

Gesichtserkennung: Areale werden größer

Erwachsene bewältigen diese Aufgabe in der Regel etwas besser als Kinder, und dieser Umstand spiegelt sich, wie Zilles und seine Kollegen mit Hilfe einer neuen Methode („q MRT“) nachweisen, auch im Gehirn: Die untersuchten Areale zur Gesichtserkennung reifen bis ins junge Erwachsenenalter - und sie tun das auf überraschende Weise.

„Wir hatten geglaubt, dass die Reifung vor allem durch den Abbau von unnötigen Zellen und Nervenverbindungen vor sich geht. Doch das Gegenteil ist der Fall: Das Gehirn bildet in diesem Bereich neue Verbindungen“, sagt Zilles im Gespräch mit science.ORF.at.

Die Reifung geht laut Studie auch mit einer verbesserten Isolierung der Nerven, durch Bildung von „Markscheiden“ einher, was in Summe bedeutet: Die Regionen für die Gesichtserkennung werden größer, das Gehirn investiert Material, wo es gefordert ist.

Soziale Hirnregionen besonders wandelbar

Gleich „nebenan“ im Gyrus fusiformis liegen übrigens jene Regionen, die für die Orientierung und Wiedererkennung von Plätzen verantwortlich sind. Dort haben die Wissenschaftler keine derartigen Veränderungen beobachtet. Schluss der Forscher: Letztere sind quasi fest verdrahtet, jedenfalls nicht ganz so wandelbar wie die Gesichtserkennungsareale.

Was durchaus zum Verhaltensinventar des Menschen passt, denn Homo sapiens ist, das wusste schon Aristoteles, ein „Zoon politikon“, ein auf Gemeinschaft angelegtes Wesen. Und das geht eben schlecht, wenn man sich die Gesichter der anderen nicht sonderlich gut einprägen kann.

Dementsprechend könnte man erwarten, dass sich das Soziale auch andernorts in die Hirnanatomie einschreibt, etwa dem Sprachzentrum - ist das so? „Das ist zwar Spekulation, aber ich bin überzeugt davon, dass es sich so verhält“, sagt Zilles. „Wenn wir eine Sprache erlernen, sollte es auch im Sprachzentrum zu größeren Umbauten kommen.“

Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: