Ein anderer Mensch in 60 Jahren

Sind wir als Jugendliche und im hohen Alter die gleichen Menschen? Die bisher längste Studie dazu sagt: Nein. Unsere Persönlichkeit verändert sich demnach in 60 Jahren mehr, als man annimmt.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1950: Damals wurden im Rahmen des Scottish Mental Survey etwa 1.200 14-jährige Schottinnen und Schotten von ihren Lehrern beurteilt. Dieses Mal ging es nicht um Schulnoten, sondern um die Persönlichkeit der Teenager. Konkret um sechs Eigenschaften: Selbstbewusstsein, Beharrlichkeit, stabile Laune, Gewissenhaftigkeit, Eigenwilligkeit und Leistungsbereitschaft. Bewertet wurde auf einer Skala von eins bis fünf.

Die Studie

„Personality Stability From Age 14 to Age 77 Years“, Psychology and Aging, Dezember 2016

2012 - also 62 Jahre später machten die Forscher um Mathew A. Harris von der University of Edinburgh 635 der ehemaligen Studienteilnehmer ausfindig. Knapp 200 der nunmehr 76 oder 77 Jahre alten Personen erklärten sich tatsächlich bereit, den Persönlichkeitstest zu wiederholen. In diesem Fall mussten sie selbst die sechs Merkmale auf der fünfteiligen Skala einschätzen. Für die Außenwahrnehmung sollten sie zudem einen ihnen nahe stehenden Menschen nominieren, der denselben Fragebogen ausfüllt. Zusätzlich wurde wie schon 1950 ein Intelligenztest durchgeführt und das allgemeine Wohlbefinden erhoben.

Verändert vom Leben

Zu ihrer eigenen Überraschung fanden die Forscher so gut wie keine Übereinstimmung zwischen den 14-jährigen und den 77-jährigen Persönlichkeiten, egal ob diese selbst oder andere sie beurteilt hatten. Nur bei der stabilen Laune und beim Selbstbewusstsein stellten sie einen schwachen Zusammenhang fest.

Das widerspricht laut den Forschern zahlreichen anderen Untersuchungen. Sie alle waren zum Schluss gekommen, dass die Persönlichkeit im Laufe eines Lebens zumindest relativ stabil bleibt. Man ging also davon aus, dass Erfahrungen und Lebensumstände grundlegenden Charakterzügen nichts anhaben können. Ein längerer Zeitraum als 50 Jahre sei allerdings bisher nie untersucht worden.

Graduelle Wesensänderung

Wie aber kann es sein, dass derselbe Mensch mit 77 Jahren ein völlig anderer ist, als er es mit 14 Jahren war? Eine Erklärung wäre der Zeitpunkt der ersten Bestandsaufnahme. Mit 14 stecken die meisten noch mitten in der Pubertät - ein Zeitraum, in dem sich vieles neu sortiert und sich manche junge Menschen sehr verändern.

Eine alternative Antwort wäre der relative lange Vergleichszeitraum. Immerhin sind laut den Forschern schon frühere Studien zum Ergebnis gekommen, dass sich Menschen von Zeit zu Zeit zumindest graduell verändern. Das summiert sich im Lauf des Lebens und am Ende bleibt nicht mehr viel übrig von der ursprünglichen Persönlichkeit.

Dass die Studie nicht alle Facetten einer Persönlichkeit erfasst hat bzw. überhaupt erfassen konnte und so vielleicht die stabilen Elemente übersehen hat, ist allerdings auch nicht ganz ausgeschlossen. Denn die historischen Daten sind naturgemäß nicht deckungsgleich mit modernen Theorien, die Persönlichkeit auf Basis der sogenannten „Big Five“-Eigenschaften beschreiben: Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit sowie Neurotizismus.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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