Was Übersetzungen lehren können

Mittelalterliche Übersetzer hatten ihr Hörer- oder Leserpublikum stets vor Augen. Denn es machte einen Unterschied, ob die Übersetzungen von der Königsfamilie gelesen oder von Analphabeten gehört wurden, so Literaturwissenschaftler Roger Ellis.

Menschen lernen aus der Geschichte, sogar durch mittelalterliche Übersetzungen. Das betonte der australische Literaturwissenschaftler Roger Ellis im Rahmen einer Tagung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Religiöse und kulturelle Phänomene könnten durch Übersetzungen beobachtet werden. Generell basiert für Ellis jede Wissensweitergabe auf Übersetzung – ob auf der sprachlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Ebene.

Ö1 Sendungshinweise

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 17.2. um 13:55.

Übersetzung war laut Ellis im Mittelalter vor allem durch zwei Faktoren motiviert: Einerseits sollte Menschen der Zugang zu griechischen oder lateinischen Texten ermöglicht werden, die der alten Sprachen nicht mächtig waren. Somit entstanden „Texte in der Volkssprache“, so Ellis. Als zweiten Grund, Texte zu übersetzen, nannte Ellis den „Nationalstolz“. Menschen wollten zeigen, dass sie „genauso gut oder sogar besser“ als andere übersetzen konnten.

Originaltreue vs. Inhalt

Welche Kriterien bei mittelalterlichen Übersetzungen wichtig waren, zeige sich beim jeweiligen Autor. Als Extrem auf der einen Seite nennt Ellis den englischen Theologen und Bischof Robert Grosseteste aus dem 13. Jahrhundert. Er habe großes Augenmerk darauf gelegt, jedes Wort mit einem anderen Wort zu übersetzen. Diese Präzision übertrug er sogar auf das Schriftbild seiner Übersetzungen: Wenn er Texte aus dem Griechischen in das Lateinische übersetzte, habe er die lateinischen Buchstaben mit einer speziellen Feder geschrieben, um mit der Buchstabenform einen Bezug zu den originalen griechischen Buchstaben herzustellen.

Nicht vergleichbar mit dieser „Treue zum Original“ waren Bibelübersetzer, die ihren Fokus vor allem auf inhaltliche Aspekte legten, sagt Ellis. Diesen ging es in ihren Übersetzungen vor allem darum, nicht der Lehre des Jesus von Nazareth widersprechen. Viele Übersetzer hätten erkannt, dass sie mit ihrer Übersetzung eine große Verantwortung für das Leben der Menschen tragen, so der Literaturwissenschaftler. Die Übersetzer im 13. und 14. Jahrhundert wollten vor allem die Menschen vor häretischen Strömungen warnen.

Markus Andorf, Ö1 Wissenschaft

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