Die Freuden der Entfremdung
Die Frage danach, warum das komische Universum Charlie Chaplin immer wieder heimgesucht wird von demjenigen, was eigentlich als die Negation des Komischen erscheint, was wir gattungsspezifisch entweder Tragödie oder Melodrama nennen, ist keinesfalls abschließend beantwortet.

Jan Dreer für IFK
Über den Autor
Sulgi Lie studierte Filmwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Bochum, Amsterdam und Berlin. Von 2005 bis 2015 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und 2016 Postdoctoral Fellow der Volkswagenstiftung an der School of Cinematic Arts der University of Southern California, Los Angeles. Derzeit ist er IFK_Research Fellow.
Die denkbar schlechteste und untheoretischste Antwort wäre mit dem Verweis auf das Genre-Hybrid der „Tragikomödie“ gegeben, die immer noch oft durch die Gemeinplätze von Alltagssprache und Filmkritik geistert und ein versöhnliches Nebeneinander von komischer Lust und tragischem Schmerz, Lachen und Weinen suggeriert, so wie das Leben halt so ist, und das Kino ebenso.
Dem Kino eingeschrieben
Chaplin wäre dann der Tragikomiker par excellence, der sowohl die Höhen und Tiefen des Lebens humanistisch in Balance hält. Gegen diesen alltags-ideologischen Begriff der Tragikomödie wäre entgegenzuhalten, dass es eben diese generische Versöhnung bei Chaplin gerade nicht gibt, sondern im Gegenteil vor allem in seinen späteren Filmen im allgemeinen und in City Lights (dt. „Lichter der Großstadt“) im Besonderen ein struktureller Antagonismus von Komödie und Tragödie zu Tage tritt, der nicht nur auf den rein gattungsmäßigen Widerspruch beider dramatischer Formen zurückführbar ist.
Meine These wäre die, dass die City Lights eine Dialektik zwischen Komödie und Tragödie austrägt, die der ästhetischen Disposition des Kinos selbst als die Unversöhnlichkeit zwischen theatraler Adressierung und geschlossener Fiktion eingeschrieben ist.

Associated Press
Filmausschnitt aus „City Lights“: Charlie Chaplin und Virgina Cherrill
Keine Versöhnung der Gegensätze
Entstanden im Jahre 1931 fällt City Lights in ein fragiles Zwischenstadium der Filmgeschichte im Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm (dem sich Chaplin bekanntlich bis zur Schlussszene von The Great Dictator partiell verweigert), vom Kurzfilm zum Langfilm (der natürlich schon lange vollzogen wurde, aber insbesondere für die Slapstick-Komödie ein Problem darstellt) und schließlich von der Attraktionspoetik des Early Cinema zur endgültigen Konsolidierung des narrativen Kinos.
Wie ich versuchen möchte zu zeigen, verkörpern sich diese instabilen kinematografischen Kräfteverhältnisse in City Lights entlang der absoluten Differenz von Komödie und Tragödie, Komödie und Melodrama, die sich anziehen, nur um sich voneinander wieder abzustoßen, deren scheinbar tragikomische Einheit nicht zuletzt auch deshalb zerbricht, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse von denen der Film erzählt, die Versöhnung der Gegensätze nicht mehr zulässt.
Veranstaltungshinweis
Am 3.4. hält Sulgi Lie einen Vortrag am IFK | Kunstuniversität Linz: “Die Freuden der Entfremdung: Charlie Chaplins „City Lights“. Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr
Chaplins Film stellt sich die Frage, ob angesichts der entfremdeten Vergesellschaftung im Kapitalismus Komik noch Komik sein kann, Slapstick noch Slapstick, der Tramp noch der Tramp oder ob nicht allein eine Selbstkritik der Komik, eine „Komik der Komik“ , ein „Lachen über die Lächerlichkeit des Lachens und über die Verzweiflung“, wie sie Adorno anhand Kafka und Beckett beschrieben hat, der falschen Versöhnung entgeht: „Sie bezeugen einen Bewusstseinszustand, der die gesamte Alternative Ernst und Heiter nicht mehr zulässt und auch nicht das Gemisch Tragikomik“, schrieb Adorno.

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Chaplin mit Albert und Elsa Einstein bei der Filmpremiere am 2. Februar 1931
Symptom: Chaplin blickt Zuseher nicht mehr an
Mit anderen Worten: Das tragische Scheitern der Komik ist dieser Komik der Komik selbst immanent geworden. Mit City Lights hat Chaplins Slapstick endgültig seine Unschuld verloren, die Komödie hat sich von sich selbst entfremdet. Diese Selbstentfremdung des Komischen artikuliert sich in dem Film in verschiedenen formalen Symptomen, die direkt die zentrale Instanz der filmischen Subjektivität betrifft - den Blick.
Was in City Lights nicht länger möglich ist, ist der frontale Blick Charlie Chaplins in die Kamera. Damit scheint eine Grundsignatur der frühen Chaplin-Filme fundamental in Frage gestellt, die ihren Ursprung im theatralen Blickaustausch zwischen Figur und Zuschauer hat. Charlie kann dem Zuschauer nicht länger in die Augen blicken, als ob nun eine unsichtbare Wand zwischen beiden eingezogen wäre, eine unüberwindliche Demarkationslinie, die es unmöglich macht, dass Charlies Blicke die Augen des Zuschauers treffen.