Bürgerbeteiligung gegen Arbeitskonflikte

Chinas Wirtschaftswachstum verlangsamt sich, und die Arbeitskonflikte nehmen zu. Um diese zu lösen, orientiert man sich nicht nur am Sozialsystem der EU. Lokale Behörden versuchen darüber hinaus Bürgerbeteiligungen zu aktivieren.

China will neue Handelswege nach Europa und Afrika aufbauen, um die Wirtschaft zu stärken. Die Rede ist hier von einer „neuen Seidenstraße“. 68 Länder zeigten sich Mitte Mai bei einem Gipfeltreffen in Peking bereits mit an Bord.

Im Landesinneren herrschen jedoch große Arbeitskonflikte. Diese entladen sich täglich in dutzenden Streiks mit mehreren hundert Beteiligten, das hieß es vor Kurzem auf einer internationalen sozial- und rechtswissenschaftlichen Tagung in Wien. „Statistiken zeigen, dass die Arbeitskonflikte jedes Jahr steigen - zwischen 2011 und 2015 um 38 Prozent. Dabei handelt es sich um individuelle wie kollektive Konflikte“, erklärte die chinesische Sozialwissenschaftlerin Beibei Tang von der Universität Liverpool.

Das „Hukou System“

Eines der Probleme sei Chinas Sozialsystem, genauer gesagt: das sogenannte „Hukou System“: "Demnach werden Menschen einer gewissen Region zugeschrieben und haben sich dort auch aufzuhalten“, so der Arbeitsrechtexperte Wolfgang Mazal von der Universität Wien.

Wer in einer anderen Region arbeiten möchte, verliert sämtliche soziale Absicherungen. Für Arbeitende in China sei die Situation daher vergleichbar mit jener in Europa vor dem EU-Zusammenschluss. Hier einen besseren Lohn, Sozialversicherung oder bessere Arbeitsbedingungen einzufordern, ist schwer. Ein weiteres Problem ist die hohe Arbeitslosigkeit, vor allem bei jungen Uniabsolventen.

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Diesem Thema widmet sich auch ein Beitrag in „Wissen aktuell“.

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Aber auch für Menschen über 40 sind Stellen rar, sagt Beibei Tang. „Der Arbeitsmarkt in China ist ausgesprochen kompetitiv, da ist es schwer, ab einem gewissen Alter Platz zu finden.“ Weiters sorge der Abzug von Menschen aus ländlichen Regionen in die Städte ebenso für Spannungen am Arbeitsmarkt wie die Schere zwischen Arm und Reich.

Zentrale Volksbeschwerdestelle

Mit ihren Problemen wenden sich viele an die chinesische Volksbeschwerdestelle. „Es kann sein, dass man sich mit individuellen Beschwerden an sie wendet, beispielsweise wenn die Firma zu wenig Lohn zahlt oder gar nicht zahlt. Oder mit Umweltangelegenheiten, wenn Giftstoffe im Erdreich die Lebensmittelsicherheit gefährden. Im Grunde ist alles möglich“, erläutert Wolfgang Mazal.

Solche Beschwerden haben eine lange Tradition, die bis in die Zeiten des Kaiserreichs zurückgeht. Heute sind die „Klagen“ und Anregungen für die Regierung vor allem wichtige Daten, aus denen sich ablesen lässt, wo gesellschaftlich Konfliktherde entstehen, so der Jurist. „Es geht darum, diese frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und Instrumente zu entwickeln, wie man diese Konflikte abfedern kann.“

Mazal berät diese Regierungsstelle und versucht den Austausch mit anderen Experten anzuregen. Der Zweck dieser Kooperation ist es mitunter, eine Alternative zum starren Sozialsystem zu finden. Hier lässt man sich vom Europäischen Sozialsystem inspirieren, so Mazal. „Wir haben sehr enge Gespräche auch mit unseren Kontaktpartnern in China, die zeigen, dass die Orientierung am Modell der EU durchaus attraktiv ist. Man überlegt hier, entsprechende Koordinationsregeln zu schaffen, um eine interne Migration zu ermöglichen, ohne dass dabei sozialer Schutz verloren geht.“

Solaranlage und Bürgerbeteiligung

Abgesehen davon setzt China auf alternative Energieträger. Hierzu gehören neben Atomkraftwerken auch Solaranlagen, die vor allem den ländlichen Raum mit Strom versorgen. Das soll Unternehmen dazu bewegen, sich auch in diesen Gebieten anzusiedeln, erklärt der Chinaexperte. Um die hohe Arbeitslosigkeit bei jungen Uniabsolventen in den Griff zu bekommen, versucht man einerseits immer wieder Unternehmen zu fördern, andererseits baut man Stellen im Forschungsbetrieb als auch in öffentlichen Unternehmungen aus.

Ein weiterer Lösungsansatz, um die steigenden Arbeitskonflikte zu lösen, heißt Bürgerbeteiligung. „Auf lokaler Ebene baut man diverse Interessensvertretungen und vor allem auch Nichtregierungsorganisationen auf und bezieht diese in die Konfliktlösungsprozesse mit ein“, sagt Beibei Tang. Damit versuchen lokale Behörden, sich von einer staatlich dominierten Mediation zu lösen und in einen Meinungsaustausch mit vielfältigen Bürgergruppen zu treten. „Auf lokaler Ebene spielen praktische Probleme und deren Lösungen eine größere Rolle. Deshalb gibt es hier mehr Flexibilität und Raum als auf zentraler Ebene, um solche Prozesse zu etablieren“, so Tang.

Hier von einer demokratischen Subkultur zu sprechen, sei aber zu früh. Vielmehr ginge es im Moment darum, die Infrastrukturen aufzubauen, Beteiligung zu praktizieren und so für Austausch zwischen den Behörden und der Bevölkerung zu gewährleisten. „Ob das generell zu demokratischer Praxis führt, kann man definitiv nicht sagen. Vielleicht. Demokratisierung ist aber ein Prozess.“

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

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