„Europa ist ein Wandland“

Warum ist die US-Wirtschaft innovativer als jene Europas? Weil der alte Kontinent ein „Wandland“ ist, sagt der Innovationsexperte Burton Lee. Die Wände von Kultur, Ökonomie und Wissenschaft verhindern ein europäisches Silicon Valley – der Heimat von Lee.

Seit Jahrzehnten vergleicht der Physiker, Ingenieurswissenschaftler und Volkswirt die Innovationsmotoren in den USA und in Europa. Begonnen hat er die Suche bei einer Art Antithese zum Silicon Valley: 1975 bei einem Praktikum am Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen in Wien.

science.ORF.at: Wie ist es zu diesem Praktikum gekommen?

Porträtfoto von Burton Lee

Burton Lee

Zur Person

Burton Lee hält Vorträge auf der ganzen Welt und lehrt European Entrepreneurship und Innovation an der Stanford Universität. Im August wird er in Alpbach zu Gast sein.

Burton Lee: Es wurde über eine Studentenorganisation vermittelt und hat etwa zwei Monate lang gedauert. Ich war damals 21 Jahre alt und studierte Physik. Einerseits wollte ich mein Deutsch verbessern, andererseits auch Wien und Österreich kennenlernen. Gleichzeitig war das Praktikum gewissermaßen der Anfang meiner vierzigjährigen Reise durch Europa, bei der ich stets der Frage nachging, wie Europa letztlich funktioniert.

Welchen Eindruck hatten Sie von dem Bundesamt und von Wien?

Lee: Es arbeiteten dort fast nur Männer, und es war sehr konservativ. Jeder trug einen weißen Labormantel. Wenn man am Morgen in das Labor kam, musste man alle zuerst persönlich begrüßen. Erst dann fing die Arbeit an.

In Wien waren in diesem Sommer zudem sehr wenige Studenten. Man sah viele ältere Menschen, und die Stadt war dunkler und weniger lebendig als heute. Hier kam ich erstmals mit dem Konservatismus von Wien in Berührung - das war sehr lehrreich.

Inwiefern?

Lee: Bis zu einem gewissen Grad hemmt dieser Konservatismus immer noch die Innovationsbereitschaft. Grundsätzlich wehrt man sich in der Wirtschaft, der Politik und den Universitäten gegen Veränderung. Das habe ich damals zum Teil erlebt, und das ist im Hintergrund immer dabei.

Später sind Sie nach München, um Physik und sowjetische Volkswirtschaft zu studieren. Warum?

Lee: Das erste Jahr habe ich nur Physik studiert. Ich wollte ursprünglich auch nicht länger bleiben, zudem war mein Vater dagegen. Es hat mich aber der sogenannte Osten – der Ostblock und die Wahrheit hinter dem Kommunismus – zunehmend interessiert. Vor allem nachdem ich eine Woche in Budapest war und Freunde in Polen besucht hatte - sie hatte ich im Studentenheim in Wien kennengelernt. Menschen waren im Osten offener, und ich habe leichter Freunde gefunden als in München.

Zudem war damals das Ende des Vietnamkriegs und ich vertraute der US-Regierung nicht. Ich wollte mir ansehen, ob die Russen vertrauenswürdiger sind. Aus diesem Grund habe ich ein zweites Jahr drangehängt und mit sowjetischer Volkswirtschaft an der Uni München begonnen. Ich war währenddessen auch oft in der DDR und habe ein Praktikum in Prag gemacht.

Ich wollte tief in das kommunistische System und die Gesellschaft eintauchen und verstehen, was Wahrheit und was westliche oder sowjetische Propaganda war. Durch meine persönlichen Untersuchungen bestätigte sich letztlich das Bild, das man im Westen von den Ostblockländern und vom Leben unter den Sowjets hatte. Bei meinen Reisen in die DDR habe ich selbst sehr ungewöhnliche Erfahrungen mit der Stasi gemacht.

Burton Lee in Stavanger

Burton Lee

Burton Lee, nicht in Leipzig, sondern im norwegischen Stavanger

Nämlich?

Lee: Das erste Mal bin ich nach Leipzig zur Messe gefahren und blieb einige Tage. Ich habe einen Professor von der Karl-Marx-Universität kennengelernt; wir haben über Sozialismus und Marxismus sowie Physik gesprochen. Einige Monate später habe ich dann von einem Herren Pampel, den ich nicht kannte, eine handschriftliche Einladung nach Leipzig bekommen. Er hat mich gefragt, was ich sehen möchte. Ich habe geantwortet, dass ich gerne die Gefängnisse sehen würde, Peenemünde, Universitäten, die Planungskommission vom Bezirk Leipzig u.v.m. Bis auf die Gefängnisse durfte ich alles sehen.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 3. 7., 13:55 Uhr.

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Am letzten Tag saßen wir in einem blauen Trabant - Herr Pampel, Herr Flemming und ich. Niemand wusste, dass ich zu dieser Zeit in der DDR war. Die zwei Herren haben mich gefragt, ob ich ihnen eventuell Kopien der Divisions-Zeitungen der amerikanischen Armeekaserne in München schicken könnte. Sie boten mir Geld dafür. Ich hinterfragte, wofür sie das brauchten.

Es wurde schnell klar, dass sie diese Zeitungen für militärische Zwecke verwenden wollten und dass diese beiden Herren von der Stasi waren. In diesem Augenblick wusste ich, ich war in Gefahr. Ich habe gesagt, ich würde es mir überlegen, damit sie mich wieder in die BRD gehen lassen. Ich habe dann in München anonym das amerikanische Konsulat angerufen und alles erzählt.

In welchem Bereich wirkt die deutsche Geschichte heute noch nach?

Lee: Spürbar wird die Stasi-Vergangenheit beispielsweise beim starken Bedürfnis nach Datenschutz. Das ist hier wesentlich ausgeprägter als in den USA. Meine DDR-Erfahrungen helfen mir, den Widerstand gegen die Ausbreitung von persönlichen Daten in Deutschland heute zu verstehen. In den USA verstehen wir diesen Widerstand nicht.

Technologiegespräche Alpbach

Von 24. bis 26. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1-Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet „Konflikt & Kooperation“. Davor erscheinen in science.ORF.at Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die bei den Technologiegesprächen vortragen oder moderieren.

Darüber hinaus spielen in ganz Europa auch bestimmte, gesellschaftliche Strukturen eine Rolle in der Ökonomie. Familie und der Heimatort sind in europäischen Ländern wichtiger als in den USA. Das heißt, die sozialen Vertrauensnetzwerke mancher europäischer Bürger sind viel kleiner, weshalb man Informationen auf einen kleineren Personenkreis als in den USA verteilt. Das ist auch der Grund, weshalb Familienunternehmen für die österreichische Wirtschaft etwa immer noch sehr wichtig sind. In den USA, vor allem in der Technologiebranche und im Silicon Valley, sind Familien für die Firmengründung meistens unwichtig. Trump ist hier eine Ausnahme.

Diese klein gewachsenen Vertrauensstrukturen werden auch in vielen Städten sichtbar, wo noch alte Stadtmauern existieren. Auch kulturell grenzt man sich europaweit voneinander viel mehr ab. Zudem sind manche Unis und die Fächer streng unterteilt - man kann Jus oder Physik oder Soziologie nur in der eigenen Fakultät studieren. Für mich ist Europa also ein „Wandland“.

Sollte man die Verbreitung und vor allem die Verwertung von Daten nicht kritisch hinterfragen?

Lee: Doch, es ist gut, dass Europa und die Europäische Union hier zum Teil eine Bremse für US-Firmen darstellen, und man sollte ihnen natürlich nicht gänzlich vertrauen bzw. amerikanischen Werte ohne Debatte übernehmen. Aber Abwehr sollte keine grundsätzliche Haltung sein. Man darf auch nicht vergessen, dass sowohl die Konkurrenz zwischen den großen Firmen wie Amazon, Apple, Microsoft und Google als auch die entsprechenden Gesetze die Firmen zu einem ethischen Verhalten in den meisten Fällen zwingen. Diese Firmen aus dem Silicon Valley haben einen großen Druck, sich richtig zu verhalten.

Silicon Valley ist Anfang der 1950er Jahre an der Westküste der USA entstanden. Hätte es theoretisch auch in Europa oder sogar Österreich entstehen können?

Lee: Nein. Damals befand sich Europa im Aufbau nach dem Krieg, und Computer spielten hier noch keine so große Rolle wie in den USA. Bereits 1939 ermutigte der Elektroingenieur und spätere Dekan der Stanford Engineering School Professor Frederick Terman seine Studenten William Hewlett und David Packard, eine IT-Firma zu gründen. Aus dem Garagen-Unternehmen entstand der IT-Riese HP. Das war erst der Beginn von Silicon Valley. Anfang der 1950er schuf Terman dann eine Region rund um die Stanford Universität und unterstützte weitere Studenten und Absolventen dabei, Firmen zu Gründen.

Hinzu kommt, dass der Westen auch politisch sehr „liberal“ war. Es entstanden hier die wichtigen Anti-Kriegs- und Hippie-Bewegungen, auch Rock`n`Roll und Jazz - das kommt hier alles in einer Art Anti-Ostküstenkultur zusammen. Zudem gab es hier nicht so viel altes Geld und Familienunternehmen wie an der Ostküste. Auch Banken hatten keinen Stellenwert im entstehenden Ingenieurs-getriebenen Silicon Valley, man etablierte vielmehr eine Kultur für Risikokapital.

Facebook-Zentrale im kalifornischen Menlo Park

AFP

Facebook-Zentrale im kalifornischen Menlo Park

Unter Horizon 2020 investiert die EU viel Geld in innovative Forschungsprojekte. Auch Österreich hat unter dem Namen „Silicon Austria“ 80 Millionen für Forschung in Elektronik- und Mikroelektronik mobilisiert und eine Open Innovation Strategie geschrieben. Ist das zu wenig oder sind das falsche Ansätze?

Lee: Es ist zu wenig Geld, und es wird sehr oft nicht in den richtigen Bereichen eingesetzt. Letztlich geht es aber nicht nur um mehr Forschung bzw. mehr Forschungsgelder. Das reicht nicht. Wichtig ist es, Computerwissenschaften zu fördern, neue Produkte zu Künstlicher Intelligenz (KI) zu schaffen und viele Startups aus den Unis zu gründen. Manche Unis in Europa wollen aber nur Forschung betreiben und kümmern sich nicht um die wirtschaftlichen Effekte.

Im Programm Horizon 2020 sind die üblichen europäischen Themen enthalten, die von Unis und Großfirmen vorgeschlagen werden und sich stark auf die Produktion, Industrie und Hardware fokussieren. Dem Programm fehlt noch heute ganz klar eine globale Strategie für Computerwissenschaften, KI, Software und Datenwissenschaft. Das habe ich 2014 der EU- Generaldirektion „DG Connect“ auch empfohlen. Bis heute gibt es aber fast niemanden dort, der sagt, dass Europa da eine ganz neue Computer Science Strategie braucht.

Ist Silicon Valley hier das einzige Vorbild für „neu“?

Lee: Nein, bestimmt nicht. Im Bereich der Informationstechnologie gilt aber, wenn nicht Silicon Valley, was sonst? Es gibt kein anderes Modell, das so schnell so viele neue Jobs, Reichtum und Wachstum schafft. Es macht deutlich, wie sehr Software und Universitäten regionale und nationale Ökonomien vorantreiben können.

Wie würde ein Silicon Valley in Europa aussehen?

Lee: Rein auf Basis von Produktion und eingebetteter Software wird das meiner Meinung nach nicht passieren. Wenn Europa politisch und wirtschaftlich von den USA und China unabhängig sein möchte, braucht es auch eine starke Industrie für Verbraucher- und Unternehmens-Software, eine Datenindustrie sowie entsprechende Geschäftsmodelle. Ansonsten ist jeder Versuch, ein Silicon Valley zu schaffen, nur ein halbes Silicon Valley.

Das Problem fängt aber mit den Informatikfakultäten an: Ich beobachte mit Sorge, dass sich viele Unis weigern, viele Software-Ingenieure auszubilden und ihnen das Software-Unternehmertum zu lehren. Generell wird zu wenig wirtschaftlich relevante Wissenschaft betrieben.

Manche Unis versuchen, eine Startup-Kultur über Maschinenbau oder Elektrotechnik aufzubauen. Das ist viel schwieriger: Es braucht viel mehr Risikokapital, es dauert länger, hier neue Produkte zu entwickeln und es ist schwerer, eine große Anzahl von Studenten in Startup-Teams regelmäßig zusammenzubringen. Die Mehrheit der Informatikfakultäten in Europa ist nicht am Puls der Zeit und kann mit den besten Unis aus den USA, Großbritannien und China nicht mithalten. Aus diesem Grund ziehen sie auch kaum Studenten aus dem Ausland an, die Software-Startups gründen wollen.

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

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