Was heißt „vorindustriell“?

Nicht mehr als zwei Grad Plus im Vergleich zur vorindustriellen Zeit, sieht der Pariser Klimavertrag vor. Doch was heißt „vorindustriell“? Ein renommierter Klimaforscher meint, dass man den Zeitpunkt früher ansetzen müsste als bisher – mit unangenehmen Folgen.

Michael Mann ist nicht irgendwer: Von ihm stammt der berühmte „Hockeystick“, der vor fast 20 Jahren den beispiellosen Temperaturanstieg ab 1850 grafisch eindeutig darstellte.

Heute gehört das Wissen um die Treibhausgase, die seit der Industrialisierung in großem Ausmaß in die Atmosphäre gelangen und die Klimaerwärmung verursachen, zum Allgemeingut. Die Berichte des Weltklimarats IPCC verwenden die Zeit zwischen 1850 und 1900 als Vergleichszeitraum. Von hier an wird die Erderwärmung bis zur heutigen Zeit berechnet.

Sie kann aber nicht nur durch die Temperaturzunahme ausgedrückt werden, häufig wird auch das Kohlenstoff-Budget als Maß verwendet. Bis zum Überschreiten der Zwei-Grad-Marke aus dem Pariser Abkommen, dürfen beispielsweise laut IPCC nur noch etwa 300 Gigatonnen davon verbraucht werden.

Menschlicher Einfluss schon vor 1850

Wirklich „vorindustriell“, wie es im Klimavertrag heißt, ist die Zeit um 1850 jedoch nicht. Darauf macht Michael Mann in einer aktuellen Studie aufmerksam. Mit Erfindungen wie der Dampfmaschine, den ersten Eisenbahnen und der Entwicklung von Schwerindustrie war die Industrialisierung damals schon in vollem Gange. Mann und Kollegen sind deshalb nun mit Hilfe von Klimamodellen noch weiter zurückgegangen und haben die Zeitspanne zwischen 1400 und 1800 genauer untersucht.

Nicht ohne Grund, denn bis 1400 kann die global gemittelte Temperatur noch relativ gut bestimmt werden. Außerdem hat sich der Mensch laut Mann schon in diesem Zeitraum zu einem bedeutenden Klimafaktor entwickelt. Denn Emissionen wurden auch schon vor der industriellen Revolution freigesetzt, etwa durch das verstärkte Verbrennen von Bäumen zur Landnutzung.

40 Prozent weniger Kohlenstoff erlaubt?

Bis 1850 hat sich laut den Berechnungen der Forscher die Erde durch menschliches Einwirken bereits um bis zu 0,2 Grad Celsius erwärmt. Berücksichtigt man diese Erwärmung bei den Pariser Klimazielen, reduziert sich das derzeit verfügbare Kohlenstoffbudget um 40 Prozent, das sind umgerechnet 120 Gigatonnen.

Ob das Ziel von unter zwei Grad tatsächlich erreicht wird, hängt also stark davon ab, wann die vorindustrielle Zeit angesetzt wird. „Der Weltklimarat IPCC verwendet einen Begriff von ‚vorindustriell‘, der die tatsächliche Erwärmung unterschätzt“, warnt Michael Mann.

Er spricht sich in einer Aussendung für klare Rahmenbedingungen aus: „Entweder müssen die Klimaziele von Paris neu überdacht werden. Oder wir entscheiden uns dafür, dass die derzeitigen Ziele tatsächlich nur von der Erwärmung seit dem späten 19. Jahrhundert ausgehen.“

Anita Zolles, science.ORF.at

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