„Homo zappiens“ ist ein Mythos

Was haben der Yeti und „Digital Natives“ gemeinsam? Beides sind mythische Wunderwesen, die es nicht gibt. Während der Glaube an den Yeti harmlos ist, richtet die Mär von den technischen Wunderwuzzis Schaden an, warnt ein Bildungspsychologe.

Sie sind nach 1984 geboren, eine Zeit, in der es noch kein Internet oder Smartphones gab, kennen sie nicht oder können sich nicht daran erinnern. Sie sind mit dem Internet und neuen Technologien aufgewachsen und daher mündige Netzbewohnerinnen und Bewohner, die sich selbst beibringen, wie man online passende Informationen sucht, und sich instinktiv im Team organisieren. Kurz: Technische Wunderwesen - klingt zu gut um wahr zu sein?

Ist es auch, schreibt Paul Kirschner, Bildungspsychologe an der Open University Niederlande und Ko Autor einer kürzlich im Fachblatt Teaching and Teacher Education veröffentlichten Studie. Er hat mehr als 60 Studien zum Thema unter die Lupe genommen und fasst zusammen: Digital Natives existieren nicht und müssen daher nicht komplett anders unterrichtet werden als ältere Generationen.

Tablets in der Klasse? Ja, aber kein Muss

Obwohl sie mit dem Internet und damit einhergehender Technologie aufwachsen, würden keine empirischen Beweise dafür vorliegen, dass junge Generationen technikaffiner sind. Paul Kirschner hat dazu eine passende Analogie: ein Kind, das sein ganzes Leben auf dem Rücksitz eines Autos verbringt, kann deshalb noch lange nicht Autofahren.

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Dem Thema widmet sich heute auch das Mittagsjournal, 09.08., 12:00 Uhr.

Genauso wenig intuitiv wie Autofahren ist es, sich für einen Aufsatz Informationen zu suchen und kritisch mit Quellen umzugehen. Wenn digitale Skills nicht ausreichend unterrichtet werden, sorge das in der Schule für Ärger und Frust, meint Bildungspsychologe Kirschner. Um diese Fähigkeiten zu erwerben, reicht es nicht die Schule mit Technik vollzustopfen. Tablets im Klassenzimmer sind für ihn daher ein Kann, aber kein Muss. Es hängt davon ab, was man gerade unterrichten will: Lehrer bräuchten das entsprechende Training, für welche Zwecke sich Bücher besser als Tablets eignen und umgekehrt.

Auch so ein Mythos: Multitasking

Einer scheinbar angeborenen Fähigkeit von Digital Natives hat Paul Kirschner zwei Kapitel seiner Studie gewidmet: dem Multitasking. Auch das kann der Nachwuchs nicht besser. Die Fähigkeit, Informationen aus verschiedenen Quellen parallel zu verarbeiten, besitze nämlich niemand. Wir können bloß zwischen einzelnen Denkprozessen hin- und herwechseln. Doch bei jedem Wechsel verlieren wir Zeit und Genauigkeit.

Mehrere Dinge gleichzeitig kriegen wir nur unter einen Hut, wenn wir eine Sache automatisch können, fasst Kirschner die derzeitige Forschungslage zusammen. Wäsche aufhängen und Radiohören zum Beispiel vertragen sich gut. Der Glaube an Multitasking sei potenziell lebensgefährlich, Stichwort Autofahren und Chatten. In der Schule und am Arbeitsplatz führe er zu Überforderung, Fehlern und Stress.

Bildungsniveau entscheidet über digitale Skills

Der „Homo zappiens“ existiere also nicht. Es könnte sein, dass wir zwei Dinge verwechselt haben: Medienaffinität und wirkliche Kompetenz.

Paul Kirschner wünscht sich, dass wir uns vom Wunderwesen „Digital Native“ verabschieden, so wie es auch um den Yeti ruhig geworden ist. Ja, es gebe Unterschiede bei den Kompetenzen, mit denen wir uns online bewegen, aber die hängen nicht vom Alter, sondern von anderen Faktoren ab: vom Einkommen und vom Bildungsniveau.

Anna Masoner, Ö1 Wissenschaft

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