20. Todestag eines Unermüdlichen

Vor 20 Jahren, am 2. September 1997, ist der Psychiater Viktor Frankl gestorben. Der Holocaust-Überlebende und Begründer der „Logotherapie und Existenzanalyse“ war überzeugt, dass das Leben niemals seinen Sinn verliert. Seine theoretischen Ansätze sind noch heute aktuell.

„Er hat immer gesagt, dass er die kleinen Dinge mit der gleichen Genauigkeit behandelt wie die Großen. Und die Größten mit der gleichen Gelassenheit wie die Kleinen“, erinnert sich Viktor Frankls Enkeltochter Katharina Ratheiser. Als Kind sei es für sie das Größte gewesen, bei ihren Großeltern übernachten zu dürfen. Denn ihr Großvater habe sich immer völlig auf sie eingelassen, mit ihr gespielt und ihr aufmerksam zugehört. Egal ob es um die Enkelkinder oder um Briefe oder Begegnungen ging, Viktor Frankl lebte sein existenzphilosophisch begründetes Menschenbild.

„Viktor Frankl betrachtete den Menschen als weltoffenes Wesen“, erklärt Alexander Batthyany, Vorsitzender des Viktor-Frankl-Instituts in Wien. Der Mensch müsse sich einbringen und in Bezug zur Umwelt stehen, damit er bei sich selbst ist. „Der Mensch ist sinnorientiert. Er will nicht nur, dass es ihm gut geht, er will auch wissen wozu er da ist, wozu er gut ist.“

Viktor Frankl, aufgenommen am 6.6.1997 in seinem Arbeitszimmer in Wien-Alsergrund

APA - Robert Jäger

Viktor Frankl, aufgenommen am 6.6.1997 in seinem Arbeitszimmer, im Hintergrund seine Ehrendoktorate

Abgrenzung von Freud und Adler

Der menschlichen Sinnsuche widmete der 1905 geborene Viktor Frankl sein ganzes Leben. Schon als Jugendlicher interessierte er sich für Psychologie und hielt bereits mit 16 Jahren einen Vortrag zum Thema „Der Sinn des Lebens“.

Von seinen beiden Vorbildern Sigmund Freud und Alfred Adler distanzierte er sich jedoch bald. Beide Theorien waren ihm zu reduktionistisch. Denn das spezifisch Menschliche ist laut Frankl die geistige Dimension - der freie Wille, der den Menschen zu einem agierenden Wesen macht.

Die von ihm begründete „Logotherapie und Existenzanalyse“ gilt als dritte Wiener Schule der Psychoanalyse. Die Therapie unterstützt bei der Suche nach einem sinn- und wertvoll empfundenen Leben und hilft beim Umgang mit Schuld, Leid und traumatischen Erfahrungen. Der Wille des Menschen zum Sinn wird aktiviert.

Porträtfoto von Viktor Frankl

APA - Robert Jäger

Biografie

Viktor Emil Frankl wurde am 26. März 1905 in Wien geboren. Nach seinem Medizinstudium arbeitete er im sogenannten „Selbstmörderinnenpavillon“ des Psychiatrischen Krankenhauses mit schwer depressiven Patienten, bevor er seine eigene Praxis gründete. Seine Position als Leiter der Neurologischen Station am Rothschild-Spital schütze Viktor Frankl ein paar Jahre vor den Nationalsozialisten. 1942 wurde er und seine Familie in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Viktor Frankl überlebte als einziger. Noch 1945 kehrte er nach Wien zurück und wurde Primarius der Neurologischen Abteilung an der Wiener Poliklinik. Dort lernte er auch seine zweite Frau Eleonora kennen, die ihn bis zu seinem Tod am 2. September 1997 privat und beruflich begleitete. Von Universitäten in aller Welt wurden Viktor Frankl 29 Ehrendoktorate verliehen. Seine Bücher sind in fast 50 Sprachen erschienen.

Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager

Die angewandte Logotherapie half Viktor Frankl, die Extremsituation im Konzentrationslager zu überstehen. Im Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ beschreibt der Arzt seine Erfahrungen. Für Frankl war klar: Es gibt keine Situation, in der nicht irgendwie noch Sinnmöglichkeiten verborgen sind. Die Aufgabe des Menschen ist es, diese zu bergen und auch zu verwirklichen.

„Als Zeitzeuge und Opfer des Holocausts wusste Viktor Frankl wozu der Mensch fähig war – im Schlechten wie im Guten“, sagt Alexander Batthyany. Das vergangene Jahrhundert führe einem die Bedeutung von Viktor Frankls Theorie klar vor Augen. Beim Menschsein gehe es nicht um narzisstische Selbstbespiegelung oder die Sorge, was andere von einem denken, sondern darum Verantwortung zu übernehmen, erklärt der Philosoph.

Frankls Ideen sind immer noch relevant

Die Grundideen, Methoden und Effizienz der Logotherapie seien heute empirisch bestätigt, so Alexander Batthyany. Sinn- und Wertkrisen haben nicht nur soziale, sondern auch gesundheitliche Auswirkungen. Auch das große Interesse benachbarter psychotherapeutischer Schulen an der Logotherapie zeige, dass die Ideen Frankls heute hochaktuell sind.

Nach dem zweiten Weltkrieg beschrieb Viktor Frankl die sogenannte „Pathologie des Zeitgeists“. Dem Psychiater fiel auf, dass die gesellschaftliche Entwicklung in eine falsche Richtung ging. Obwohl sich die heutigen Umstände maßgeblich von der Nachkriegszeit unterscheiden, könne man doch ähnliche Entwicklungen ausmachen, ist Batthyany überzeugt.

„Wir leben in einem unerhörten Wohlstand, in einer Zeit größter konsumistischer Verführung, doch viele sind unzufrieden und hadern mit sich selbst.“ Es brauche eine Rückbesinnung auf menschliche Grundeigenschaften: Freiheit, Verantwortung, Ansprechbarkeit, Engagement und die Überwindung der Gleichgültigkeit.

Unermüdlich und lebensbejahend

Gleichgültig war Viktor Frankl nie. „Er hatte eine große Lust am Leben und wollte etwas spüren“, erzählt Enkeltochter Katharina Ratheiser. Was man heute als „work-life-balance“ bezeichnet, kannte der Psychiater nicht. Seine Arbeit und sein Leben waren eng miteinander verwoben. Wenn er Ruhe und Erholung suchte, dann fuhr er zum Bergsteigen an die Rax.

Sendungshinweise

Über Frankls 20. Todestag berichten auch die Ö1-Journale, 2.9., 12:00 Uhr. Im TV zu sehen: „Land der Berge“: Die Trotzmacht des Geistes: Viktor Frankl, Arzt und Alpinist: 2.9., 19.30 Uhr, ORF III; „Kreuz und Quer: “Wofür es sich zu leben lohnt - Viktor Frankl und die Suche nach dem Sinn“: 5.9., 22.35 Uhr, ORF 2.

„Er hat sich bewusst etwas gesucht, wo er sich konzentrieren musste. Sein Geist war einfach immer rege und hat immer eine Aufgabe gebraucht.“ Viktor Frankl litt unter Höhenangst. Doch für den Psychiater war klar: Man kann sich über seine eigenen Ängste erheben. „Ich lass‘ mir von mir selber nicht alles gefallen – diese Aussage meines Großvaters begleitet mich noch heute.“

Mit seiner zweiten Frau Eleonora verband Viktor Frankl ein starkes Band. Bei der kleinsten Unstimmigkeit, hätten beide sehr gelitten, erzählt die Enkeltochter. In der Mariannengasse 1 in Wien haben die beiden nicht nur gemeinsam gelebt, sondern auch gemeinsam gearbeitet. Als Viktor Frankl auf einem Auge erblindete, las ihm seine geliebte Elly vor.

Viktor Frankl hat bis zum Schluss das gemacht, wofür er gebrannt hat, sagt Katharina Ratheiser. „Relativ kurz vor seinem Tod hat er mir gesagt: Er möchte in der Gewissheit abtreten, dass er das Seinige getan hat und nicht mehr und nicht weniger.“ Nach einer Herz-Bypass-Operation verstarb Viktor Frankl am 2. September 1997.

Juliane Nagiller, Ö1 Wissenschaft

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