„Nicht alles kam auf Druck der Nazis“

Die Nationalsozialisten haben 500.000 Roma und Sinti ermordet. Der Boden für den Genozid wurde mancherorts bereits in der Zwischenkriegszeit bereitet, sagt ein tschechischer Historiker. Wer etwa schon damals als "Zigeuner“ registriert wurde, war schneller greifbar.

Als ein Bild mit großen weißen Flecken beschreibt Gerhard Baumgartner vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes den Forschungsstand zum nationalsozialistischen Genozid an den Roma und Sinti. Eine Lücke will nun der Historiker Pavel Baloun, aktuell Junior Fellow am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien schließen. Er untersucht antiziganistische Maßnahmen in der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei und ihre Auswirkungen auf die Verfolgung der Roma und Sinti während der NS-Besatzung.

Verfolgung im Protektorat

1939, wenige Wochen bevor die Nazis die tschechischen Gebiete besetzten und das Protektorat Böhmen und Mähren proklamiert wurde, verabschiedete die tschechoslowakische Regierung ein Gesetz zur Errichtung von Arbeitslagern für sogenannte Arbeitsscheue. Solche Lager wurden in Lety und in Hodonín während des Protektorats errichtet. In den Zwangsarbeitslagern wurden im Laufe der Besatzung immer mehr Roma und Sinti eingesperrt, von denen fast alle nach Auschwitz deportiert wurden. Der Befehl zur Vernichtung aller Roma und Sinti im gesamten Machtbereich wurde im Dezember 1942 von Heinrich Himmler erteilt und ging als Auschwitz-Erlass in die Geschichte ein. Die Aufarbeitung des Genozids im Protektorat Böhmen und Mähren wurde ab den 1980er Jahren vor allem vom tschechischen Historiker Ctibor Nečas vorangetrieben.

Unter Generalverdacht

Für Baloun ist die Verfolgung der Roma und Sinti durch die Nazis ein „langsamer, gradueller Prozess, der zum Genozid führte.“ Und dieser Prozess hat seine Wurzel auch in der Zwischenkriegszeit. Baloun nimmt diese Periode nun genauer unter die Lupe.

In der Ersten Tschechoslowakischen Republik gab es eine langjährige Debatte, die sich um die Lösung der sogenannten Zigeunerfrage drehte, erklärt der Historiker: „In der Verwaltung und der Politik forderte die Mehrheit eine Internierung der Roma und Sinti in Lager oder Kolonien, wie man das damals nannte. Die Debatten bauten auf der Frage auf, ob man Roma ‚zivilisieren‘ könne. Die gängige Wahrnehmung war, dass dies mit Kindern möglich sei, mit Erwachsenen aber nicht. Deshalb schien die Internierung der Erwachsenen die perfekte Lösung.“

Diese Forderungen kamen vor allem von der Gendarmerie und den lokalen Behörden wie Gemeindeämtern und Bezirkshauptmannschaften, wurden aber von der politischen Führung abgelehnt. 1925 erteilte ihnen das Innenministerium in einem offiziellen Statement eine Abfuhr: Die Internierung wäre nicht mit der modernen, demokratischen Verfassung und dem Minderheitenschutz vereinbar.

1927 konnte aber ein Gesetz durchgesetzt werden, auf dessen Basis die Gendarmerie ein Register von allen „herumziehenden“ Roma und Sinti erstellen sollte. Anlass dafür waren zwei Mordprozesse, bei denen Roma auf der Anklagebank saßen. Roma und Sinti standen nun unter Generalverdacht, erklärt Baloun: „Das Register war Teil eines neu geschaffenen speziellen Polizeiregisters, das Gewohnheitsverbrecher im Visier hatte. Das Gesetz ermöglichte es der Gendarmerie, Roma, die nicht sesshaft waren, als Gewohnheitsverbrecher zu behandeln.“

“Vorarbeit“ in der Zwischenkriegszeit

Sesshafte Roma und Sinti sollten nicht registriert werden, allerdings gab es keine genaue Definition, wer unter die Zielgruppe fiel. Das ließ der Gendarmerie freie Hand. In den ersten Jahren nach der Einführung wurden in der Tschechoslowakei etwa 30.000 Menschen als „herumziehende Zigeuner“ registriert. „Diese Menschen konnte man nun überwachen und jederzeit polizeilichen Maßnahmen unterwerfen“, so Baloun.

Gedenkstätte für ermordete Roma und Sinti in Berlin

AP Photo/Markus Schreiber

Gedenkstätte für ermordete Roma und Sinti in Berlin

Die Gendarmerie entwickelte sich in den 1930er Jahren in der Tschechoslowakei zur führenden Expertin in der sogenannten „Zigeunerfrage“. Vereinzelt erstellte sie auch pseudowissenschaftliche rassentheoretische Beschreibungen. Der Ruf nach einer Internierung in Lagern aus den Reihen der lokalen Behörden verstummte aber auch in den 1930er Jahren nicht, unter anderem weil sich die Umsetzung des Gesetzes von 1927 in der Praxis als schwierig erwies.

Die antiziganistische Stimmung in der Zwischenkriegszeit entlud sich auch in Pogromen, die an mehreren Orten in der Tschechoslowakei stattfanden. Sie richteten sich vor allem auch gegen sesshafte Roma und Sinti. „Wir können diese kollektive Gewalt als Ausdruck eines politischen Willens verstehen, als ein Statement, selbst zu handeln in der sogenannten Zigeunerfrage“, erklärt Baloun. Auch in diesem Zusammenhang untersucht der Historiker das Verhalten der lokalen Behörden.

„Auf Gemeindeebene kamen vielen die Maßnahmen der Nazibesatzung sehr gelegen. Sie nutzten sie, um diese unliebsame Bevölkerungsgruppe endlich loszuwerden“, betont Baloun. Die Deportationslisten wurden von der lokalen Gendarmerie erstellt. Man verwendete die bestehenden Register als Grundlage. „Nicht jede Maßnahme, die in der Zeit des Protektorats ergriffen wurde, erfolgte auf Druck der Nazis. Hier wurde auch viel im Alleingang gemacht“, so Baloun. „In den Lagern beispielsweise sollten zu Beginn eigentlich nur sogenannte Arbeitsscheue eingesperrt werden, das bezog sich ausschließlich auf erwachsene Männer. Die lokalen Behörden erstellten Listen von Menschen, die man in diese Lager sperren könnte. Und wenn man sich die Listen ansieht, merkt man, dass da oft ganze Familien draufstanden.“

Baloun betont, dass es wichtig sei, sich die Rolle der lokalen Behörden genauer anzusehen: „Der Genozid an den Roma und Sinti wird heute in Tschechien als etwas gesehen, dass nur mit den Nazibesatzern zu tun hatte.“ Die Kollaboration der lokalen Behörden werde kaum wahrgenommen.

Ein europäisches Problem

Auch Gerhard Baumgartner hält den Blick auf die Zwischenkriegszeit für relevant. In Bezug auf Österreich müsse man heute sagen: „Wer das Pech hatte in der Zwischenkriegszeit von der lokalen Polizei als sogenannter Zigeuner registriert zu werden, wurde in der Regel von den Nazis deportiert. Wer nicht, der nicht.“ Die Verfolgung der Sinti und Roma sei im Machtbereich der Nationalsozialisten aber nicht einheitlich abgelaufen. Die Berliner Zentralbehörden hätten oft andere Vorstellungen wie die Lokalbehörden darüber gehabt, wie die Verfolgung und Deportation in der Praxis durchgeführt werden sollten. „Verfolgt wurden Roma und Sinti überall, aber wie intensiv hängt von Ort zu Ort davon ab, wer sich in der Sache engagierte. Gerade deshalb sind lokalhistorische Studien wichtig.“

Gesichtsmasken von nicht identifizierten Roma und Sinti, die in der NS-Zeit ermordet wurden, Ausstellung Sachsenhausen

AP Photo/Sven Kaestner

Gesichtsmasken von nicht identifizierten Roma und Sinti, die in der NS-Zeit ermordet wurden, bei einer Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen

Dass die Gendarmerie in der Zwischenkriegszeit Listen von Roma und Sinti erstellte, war nicht nur in der Tschechoslowakei der Fall, sagt Baumgartner: „In vielen europäischen Staaten machte die Kriminalpolizei Ähnliches. In den 1920er Jahren wurde Interpol gegründet, dort war die sogenannte Zigeunerverfolgung ein eigener Arbeitsschwerpunkt.“

Die Verfolgung speiste sich aus sozialpolitischen und aus rassistischen Überlegungen, erklärt Baumgartner: In der Zwischenkriegszeit spielten erstere die dominantere Rolle. Roma und Sinti wurden aufgrund ihres Lebensstils und ihrer sozialen Position verfolgt. Unter den Nazis setzte sich die rassistische Überlegung durch und Roma und Sinti wurden unabhängig von ihrer Integration in die Mehrheitsgesellschaft verfolgt.

Heute schätzt man die Opfer des nationalsozialistischen Genozids europaweit auf 500.000 Roma und Sinti. „Quellenmäßig belegen lassen sich bis jetzt knapp die Hälfte davon. Die Dunkelziffer ist hoch“, sagt Baumgartner. „Auf dem Gebiet des heutigen Tschechien handelt es sich um 10.000 bis 15.000 Personen. Die Opferzahlen unter den deportierten Roma sind extrem hoch, etwa 70 bis 80 Prozent der Vorkriegsbevölkerung.“ So hohe Anteile gebe es nur in Tschechien und in Österreich und sonst nirgends unter den Roma und Sinti in Europa. Woran das liegt, wisse man nicht. Auch das sei noch eine der zahlreichen Forschungslücken, die es zu schließen gelte.

Katharina Gruber, Ö1-Wissenschaft

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