Oral History goes Statistik

Wie sah das Leben versteckter Kinder in Frankreich in der Nazizeit aus? Eine Salzburger Historikerin hat mehr als 1.000 autobiografische Texte zusammengetragen, um diese Frage auch statistisch auszuwerten.

Annelyse Forst, die auch Informatikerin und Naturwissenschaftlerin ist, möchte Methoden entwickeln, mit denen man autobiografische Texte statistisch auswerten kann, und herausfinden, was die Lebensbedingungen der Kinder damals beeinflusste.

„Einige Kinder, die versteckt wurden, wurden misshandelt und ausgebeutet, andere wurden bestmöglich geschützt. Mich interessiert, welche Faktoren es wahrscheinlicher machten, dass ein Kind schlecht behandelt wurde", so Forst.

Zahlreiche Faktoren

Von 10.000 versteckten Kindern in Frankreich gehen historische Schätzungen heute aus. 159 autobiografische Texte und 124 Biografien von ihnen hat Annelyse Forst mit 872 Interviews ergänzt. Sie hat sie aus Archiven in Israel, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, den USA und Kanada zusammengesammelt.

Tagung

Annelyse Forst präsentierte ihr Projekt bei der Tagung „Autobiographik von Exil, Widerstand, Verfolgung und Lagererfahrung“ (23.-25.11, Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichte-forschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien).

Wie es den versteckten Kindern erging, war von zahlreichen Faktoren abhängig. Ob ein Kind in einem Kloster versteckt wurde, bei einem kinderlosen Paar aufwuchs, das sich ein Kind wünschte, oder auf einem kinderreichen Bauernhof unterkam, wo es als Arbeitskraft eingesetzt wurde, machte beispielsweise einen Unterschied, so Forst: „Auch, ob es ein französisches Kind war oder ein Flüchtlingskind aus Österreich oder Deutschland, war relevant.“

Viele offene Fragen ohne Statistik

Forst sagt, dass in der Geschichtswissenschaft oft Thesen über den Einfluss der einzelnen Faktoren aufgestellt werden, ohne dass sie statistisch belegt werden: „Wenn mehr Mädchen bei Pflegefamilien unterkamen und mehr Buben auf Bauernhöfen, dann werden Prozentzahlen angegeben und Thesen aufgestellt, warum das so sein könnte.“

Aber das kläre noch nicht, ob der Unterschied Zufall ist oder statistisch relevant, so Forst: „Ohne Statistik bekommt man auch keine Antwort auf die Frage, ob es einen Unterschied macht, wenn man den ganzen Krieg bei einer Familie verbrachte oder wenn man das Versteck öfter wechseln musste. Viele Fragen bleiben offen.“

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 24.11., 13:55 Uhr.

Die Schilderungen der ehemaligen versteckten Kinder brauche die Forschung, um zu verstehen. Aber sie brauche auch Zahlen, um solche Fragen zu beantworten. Diese Zahlen möchte die Historikerin durch statistische Tests gewinnen.

Statistik sei eine sinnvolle Erweiterung zur geschichtswissenschaftlichen Methode der Oral History, bei der die erzählte Erinnerung im Zentrum steht. Ohne statistische Auswertung, würden die historischen Erkenntnisse oft auf der individuellen Ebene bleiben und es könnten keine generellen Aussagen getroffen werden.

Verzerrte Erinnerungen

Die meisten der untersuchten Texte entstanden im Nachhinein im Erwachsenenalter. „Man weiß, dass sich Erinnerungen im Laufe des Lebens verändern und dass nie alle Details der Realität entsprechen“, sagt Forst. Gerade Traumata können Erinnerungen stark verändern.

Das müsse man immer bedenken, wenn man mit Autobiografien als Quellen arbeite: „Aber gerade solche Fakten, wie zum Beispiel, ob ich in einem Kloster oder auf einem Bauernhof gelebt habe und ob ich als Kind arbeiten musste oder nicht, sind wenig fehleranfällig. Da kann man davon ausgeht, dass man sich daran erinnert.“

Annelyse Forst will den Zusammenhang zwischen den einzelnen Faktoren entschlüsseln und hofft, dass ihre statistischen Tests später auch auf andere Themengebiete der Oral History angewendet werden.

Katharina Gruber, Ö1-Wissenschaft

Mehr zu dem Thema: