Die Vertreibung der „Deutschen“

Ab 1945 wurden Tausende Deutsche und Österreicher aus den Niederlanden vertrieben - darunter Überlebende des Holocaust. Bis heute ist wenig über die Operation „Black Tulip“ bekannt. Eine niederländische Wissenschaftlerin hat die Geschichte nun genau erforscht.

Seit Jahren durchforstet die Kulturanthropologin Angela Boone die Archive der niederländischen Justiz auf der Suche nach Informationen über die Operation „Black Tulip“. So konnte die unabhängige Wissenschaftlerin zeigen, dass die niederländische Regierung nach 1945 nicht die Bestrafung von NS-Kollaborateuren oder Kriegsverbrechern beabsichtigt hat, sondern vielmehr die Enteignung und Vertreibung aller Deutschen und Österreicher und deren Angehöriger. Ihre Forschungsergebnisse präsentierte sie bei einer Simon Wiesenthal Konferenz in Wien.

Verhaftung in den frühen Morgenstunden

Am 1. Oktober 1945 erging ein Befehl an alle lokalen Polizeichefs der Niederlande: Der Justizminister forderte sie dazu auf, alle Personen mit deutscher Nationalität, alle „Reichsdeutschen“, zu inhaftieren. „Wer diese Deutschen waren, war unerheblich“, sagt Angela Boone.

Die Verhaftungen haben meist in den frühen Morgenstunden oder am späten Abend stattgefunden, um die Fluchtgefahr zu verringern. Die Polizei nahm gesamte Familien fest. Diese durften ein wenig Geld und ein paar Koffer mitnehmen, maximal 30 Kilogramm. Der restliche Besitz wurde beschlagnahmt.

Besitz wurde beschlagnahmt

Zu den Opfern zählten viele Unschuldige, darunter jüdische Überlebende des Holocaust, die vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in die Niederlande geflüchtet waren. Auch etliche Gastarbeiter, die bereits in den 1920er Jahren gekommen waren oder Hausmädchen, die in Rotterdam und Amsterdam bei deutschsprachigen Familien arbeiteten, mussten das Land jetzt verlassen. NSDAP-Mitglieder oder NS-Kollaborateure seien nur einige wenige gewesen, betont Boone.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag im Europa-Journal am 1.12. um 18:20.

Nach dem Krieg fehlten in den Niederlanden 100.000 Wohnungen. Die Landwirtschaft war am Boden und die meisten Fabriken zerstört. Die Regierung stellte zunächst Forderungen an die Alliierten. Man wollte 25 Milliarden Gulden Entschädigung und das deutsche Bundesland Nordrhein-Westfalen. Alle Deutschen sollten dieses Gebiet verlassen, um Platz für niederländische Bürger zu machen. Doch die Alliierten lehnten das ab. Ab Oktober 1945 wurden Deutsche und Österreicher dann inhaftiert, ihre Vermögen beschlagnahmt und die Familien deportiert.

Prominenter Fall: Otto Frank

Die einzige Möglichkeit einer Verhaftung zu entgehen, war eine offizielle „Nicht-Feindlichkeits-Erklärung“. Dafür waren 50 Gulden und schriftliche Erklärungen einiger Niederländer notwendig. „Die mussten bezeugen, dass man sich während des Kriegs anständig verhalten hatte“, erklärt Boone. Bis man dann eine entsprechende Erklärung von der Regierung bekam, konnten Jahre vergehen. Viele warteten vergebens. Von dieser Vorgehensweise waren auch Opfer des Holocaust betroffen, die gerade aus dem Konzentrationslager kommend, nach Holland zurückgekehrt waren. Sie hatten dann keinen Zugriff auf ihren Besitz und haben keinerlei Entschädigung für ihr Leid erhalten.

In diesem Zusammenhang ist Angela Boone auf einen prominenten Namen gestoßen. Otto Frank, Anne Franks Vater, überlebte als einziges Familienmitglied das Konzentrationslager Auschwitz. Als er im Juni 1945 nach Amsterdam zurückkehrte, beschlagnahmten die Behörden seinen Besitz und er wurde zum Staatsfeind erklärt. Erst 1947, als er die Tagebücher seiner Tochter Anne veröffentlichte, erhielt er seinen Besitz zurück und eine Aufenthaltserlaubnis.

Ab 1946: Operation „Black Tulip“

Ab September 1946 wurde die geplante Vertreibung der Reichsdeutschen offiziell als Operation „Black Tulip“ bezeichnet. Hinter der „schwarzen Tulpe“ verbarg sich eine weitere Systematisierung. Die niederländische Regierung richtete Auffanglager ein. In den größten, Marienbosch und Avegoor, wurden die Menschen monatelang festgehalten, weil die Alliierten die Vertreibungen nach Deutschland erschwerten.

Die Inhaftierten saßen hier für Monate fest und wurden Tag und Nacht bewacht. Wie viele Niederländer in die Operation „Black Tulip“ involviert waren, als Verwaltungsbeamte, Polizisten und Aufseher, kann Angela Boone nur schätzen. Denn viele Deportationslisten wurden vernichtet. „Im Stadtarchiv Amsterdam hat man mir gesagt, dass man die Listen der Stadt vernichtet hat, weil sie als unwichtig eingestuft wurden“, berichtet die Wissenschaftlerin.

Überschneidungen mit Nazi-Personal

Einige Namen konnte Angela Boone jedoch identifizieren, darunter den Kommandanten des größten Auffanglagers. Er war während der NS-Besatzung Kommandant des Durchgangslagers Westerbork. In den Niederlanden sei das bis heute unbekannt, so Boone. Aber der Mann habe die Vertreibungen nach dem Krieg in der gleichen Weise, mit dem gleichen Engagement ausgeführt, wie die mehr als 100.000 Deportationen während des Krieges in Konzentrationslager.

Die Anzahl der Täter liegt bis heute im Dunkeln, ebenso wie jene der Opfer. Die Operation „Black Tulip“ wurde erst im Juni 1951 offiziell für beendet erklärt. Der offiziellen Zahl von 3.600 Deportierten vertraut die Wissenschaftlerin auf jeden Fall nicht. „Ich habe nicht einmal Zugang zu allen Dokumenten und bin schon bei einer höheren Anzahl“, stellt die Kulturanthropologin fest.

Keine Erinnerung an die Opfer

Angela Boone hofft, dass sich zukünftig österreichische und deutsche Familien bei ihr melden, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Niederlanden vertrieben wurden. Denn in den Niederlanden selbst sei die Suche nach Zeitzeugen sehr schwierig. An niederländischen Universitäten oder Schulen steht die Operation „Black Tulip“ nicht auf dem Lehrplan. Dort, wo die Lager Marienbosch und Avegoor waren, stehen heute ein Hotel bzw. ein Studentenheim. Der unschuldigen Opfer dieser Vertreibungen wird nicht gedacht.

Aber Angela Boone hat ein Archiv entdeckt, in dem tausende Akten bis heute aufgehoben werden. Jene Dokumente, die alle Deutschen und Österreicher als Staatsfeinde identifiziert haben, in denen alle Familienmitglieder und der Vermögenstand dokumentiert wurde. Darunter sind etliche Opfer der NS-Verfolgung. „In den Niederlanden wird nicht über die Jahre nach dem Krieg gesprochen, das ist bis heute schwierig“, so Boone.

Marlene Nowotny, Ö1-Wissenschaft

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