Niedrigere Richtwerte - mehr Kranke?

Geht es nach den neuen Richtlinien von US-Gesundheitsbehörden, hat fast jeder Zweite einen zu hohen Blutdruck. Ob niedrigere Grenzwerte zu einer „kranken Gesellschaft“ führen oder medizinisch sinnvoll sind, ist aber umstritten.

120 zu 80 - so sieht der normale Blutdruck aus, zumindest wenn es nach der jüngsten Empfehlung der American Heart Association geht. Zwischen 121 und 130 gilt der Blutdruck demnach als erhöht, ab 130 als hoch. Das sind deutlich niedrigere Werte als zuvor und sie bewirken, dass plötzlich fast die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung Bluthochdruck hat.

Ist sie dadurch auch krank? Nein, sagt Jörg Slany, Ehrenpräsident der Österreichischen Gesellschaft für Hypertensiologie: „Risikofaktor ist ja nicht gleich Krankheit. Krankheit ist etwas, das mit dem Risikofaktor möglicherweise in 20 oder 30 Jahren kommt.“

Häufig über 135 - dann Medikamente

Trotzdem müsse man auf den Risikofaktor reagieren, insofern begrüßt Slany die neuen Empfehlungen - sagt aber auch dazu: „Niemand stellt sich vor, dass jemand mit einem systolischen Wert von 125 alles daran setzt, ihn auf unter 120 zu senken. Das wird wahrscheinlich so minimale Effekte haben, dass sich die Mühe nicht lohnt.“

Aus medizinischer Sicht wichtig ist, dass Menschen mit einem Risiko für Bluthochdruck regelmäßig zuhause messen. In der Ordination und besonders in Anwesenheit des Arztes steigen die Werte. Zuhause gilt: „Bei 30 Messungen sollte der obere Blutdruckwert mindestens 23 Mal unter 135 liegen“, so Jörg Slany.

Eine Ärztin misst bei einer alten Frau den Blutdruck.

APA - Barbara Gindl

„Weißkittel-Effekt“: die Anwesenheit eines Arztes, lässt den Blutdruck steigen

Ö1 Sendungshinweis:

Über das Thema berichtet auch das Mittagsjournal am 20.12.2017.

Liegt der obere Blutdruckwert häufig über 135, müsse man über Medikamente ernsthaft nachdenken, denn ein zu hoher Blutdruck ist als Risikofaktor für Schlaganfall und Herzinfarkt belegt. „Wir haben in Österreich mehr als 20.000 Schlaganfälle pro Jahr. Wenn man den Blutdruck ernst nehmen würde, müsste man diese Zahl locker halbieren können.“

Dass Slany mit 135 von einem höheren Wert spricht als die den niedrigeren US-Richtwerten zugrunde liegende SPRINT-Studie, liegt vor allem an der Art der Blutdruckmessung im Lauf der Studie: „Die Patienten durften eine halbe Stunde vorher weder geraucht haben noch etwas getrunken haben. Sie mussten mindestens fünf Minuten ruhig sitzen vor der ersten Messung, die nach ein bis zwei Minuten wiederholt wurde - das kann man in der Ordination so nicht umsetzen.“ Umso wichtiger sei die Messung daheim.

Gesellschaft krank schreiben

Kritiker der neuen US-amerikanischen Leitlinien wie beispielsweise der Mediziner Gilbert Welch sprechen überhaupt von einer Krankschreibung großer Teile der Gesellschaft. „Ich habe Sorge, dass wir uns zu sehr auf Zahlen konzentrieren“, schreibt er kürzlich in einem Kommentar für die „New York Times“. Er betonte, dass die SPRINT-Studie ausschließlich an Menschen mit einem überdurchschnittlichen Risiko für Herzkrankheiten durchgeführt wurde. „Der Vorteil (einer Senkung des Blutdrucks auf unter 130 bzw. 120, Anm.) wäre für ansonsten gesunde Menschen noch geringer“.

Eine Batterie Blutproberöhrchen

APA - Barbara Gindl

14 Prozent mehr Diabetes-Fälle durch geänderte Richtwerte

Sprunghaft mehr Betroffene durch geänderte Schwellenwerte - das hat es auch 1997 beim Diabetes gegeben. „Vor der Änderung der Richtwerte hatten in den USA 11,7 Millionen Menschen Diabetes, nach der neuen Definition waren es 13,4 Millionen, also 14 Prozent mehr“, sagt die Medizinerin Anna Glechner vom Department für evidenzbasierte Medizin der Donau-Uni Krems.

Ähnlich ist es beim sogenannten Prä-Diabetes, einer Störung im Zuckerstoffwechsel, die eine Vorstufe zu Diabetes sein kann, aber nicht muss. Wendet man die im Vergleich zur Weltgesundheitsorganisation WHO niedrigeren Richtwerte der American Diabetes Association an, führt das zu einer Verdreifachung der Betroffenen.

Nutzen und Risiko abwägen

Anna Glechner rät auf jeden Fall, genau hinzuschauen: „Je näher man sich dem Normalwert nähert, desto mehr muss man das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer medikamentösen Therapie betrachten.“ Bei Prä-Diabetes setzt man beispielsweise nicht auf Medikamente, sondern eine Änderung des Lebensstils mit weniger Körpergewicht, mehr Bewegung und gesünderer Ernährung.

Denn jedes Medikament hat auch Nebenwirkungen, das hat auch die SPRINT-Studie gezeigt, die den nun gesenkten Blutdruckwerten zugrunde liegt. Ein Teil der Patienten hat über Nierenbeschwerden und Schwindel durch die Medikamente berichtet. Und auch Jörg Slany sagt: Je näher man am Normalwert sei, desto eher gehe es ohne Medikamente. Beim Blutdruck reichen dann oft regelmäßige Bewegung und gesundes Essen - auch das haben Studien gezeigt.

Elke Ziegler, Ö1-Wissenschaft

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