„Halbgötter landen immer im Himmel“

Warum haben wichtige Teile der deutschen Kulturelite mit der NS-Barbarei kollaboriert? Der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen sucht in fiktiven Dialogen nach einer Antwort. Seine Diagnose: „Halbgötter landen immer im Himmel.“

Lethen hat vor Kurzem das Buch „Die Staatsräte“ veröffentlicht, in dem er vier herausragende Mitglieder der nationalsozialistischen Kulturelite porträtiert: den Juristen Carl Schmitt, den Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, den Schauspieler Gustaf Gründgens und den Dirigenten Wilhelm Furtwängler.

Quartett mit Qualitäten

Die vier hatten einiges gemeinsam: Sie waren in ihren Fachgebieten Ausnahmekönner und Virtuosen, haben sich mit dem System arrangiert und waren allesamt Mitglieder des Staatsrats, einer Art NS-Ehrenrat, der von Hermann Göring besetzt wurde. Er bestand aus einer Reihe von SA- und SS-Größen sowie aus Teilen der wirtschaftlichen und kulturellen Elite Deutschlands.

Porträtfoto von Helmut Lethen

Lukas Wieselberg, ORF

Helmut Lethen lehrte von 1977 bis 1996 an der Universität Utrecht, war danach Professor für Neuere deutsche Literatur in Rostock, von 2007 bis 2016 Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien und ist derzeit Professor an der Kunstuniversität Linz

Die Bandbreite der Mittäterschaft der vier Staatsräte ist breit. Direkt in Verbrechen verwickelt war nur Carl Schmitt, der bis 1936 aktiv am Ausschluss von Juden in Justiz, Gerichtswesen und Bibliotheken beteiligt war. Auch nach 1945 distanzierte er sich nicht von dem Regime und rühmte sich weiter des Staatsrat-Titels.

Der „Kronjurist des Dritten Reichs“ ist auch die Figur, der im neuen Buch von Lethen am meisten - argumentativer - Platz eingeräumt wird. Lethen, in seiner Jugend Maoist und Mitglied einer K-Gruppe, tritt darin zum ersten Mal als Romancier auf: Er verwickelt die vier Staatsräte, die sich im echten Leben niemals als Quartett getroffen haben, in fiktive Gespräche, in denen sie über Gemeinschaft, Schmerz und Scham räsonieren.

science.ORF.at: Die Rezensionen sind bisher sehr wohlwollend, das Buch liegt in einigen Sachbuchlisten auf Platz 1. Die „Süddeutsche Zeitung“ aber beklagte, die „Staatsräte“ hätten das literarische Niveau eines Ärzteromans ...

Helmut Lethen: Das hat mich insofern getroffen, als es meinen Selbstverdacht bestätigte. Auf der anderen Seite: Wenn das Buch Auflagen hat wie ein Ärzteroman, bin ich auch nicht dagegen.

Drei der vier Staaträte haben Sie als „Halbgötter Ihrer Jugend“ bezeichnet, seit vielen Jahren arbeiten Sie sich an diesen und anderen Ikonen der deutschen Nationalkonservativen des 20. Jahrhunderts ab. Warum eigentlich?

Lethen: Von Nietzsche stammt der Satz: „Die deutsche Bildung ist ein Handbuch der Innerlichkeit für äußere Barbaren.“ Für mein Buch war das ein Initialsatz. Es war für mich immer unbegreiflich, wie diese Virtuosen der Hochkultur auf der einen und der Barbarei auf der anderen Seite kooperierten. Die Frage ist, ob sich diese Virtuosen selbst mit Lebensblindheit umgaben, ob sie nichts sahen als ihre eigene Echokammer oder ob sie bewusst Instrumente der Grausamkeit waren.

Wie beantworten Sie heute die Frage?

Lethen: Ganz einfach: Sie wollten ihre Resonanzräume nicht verlieren. Gründgens verfügte als Generalintendant der Preußischen Staatstheater über ein ungeheures Imperium, er war ein exzellenter Geschäftsmann und ein hervorragender Schauspieler. Furtwängler hatte mit der Staatsoper und Philharmonie in Berlin gewaltige Resonanzräume, später auch mit der Philharmonie in Wien. Sauerbruch hätte das eigentlich nicht nötig gehabt. Er hat immer gesagt: „Nennt mich Chef, aber nicht Staatsrat!“ Er hielt nicht viel von dem Titel. Er operierte sowieso Potentaten in Ankara oder Tokio und hätte seinen Aktionsraum auch in den USA oder wo auch immer fortsetzen können. Das Motiv der anderen war die Furcht, ihre Echokammer zu verlieren. Das ist nicht eingetreten, und das eigentlich Erstaunliche ist, dass ihr Ruhm nach 1945 in der BRD noch größer wurde.

Haben die vier das System ausgenutzt oder umgekehrt?

Das Buch

Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt, Verlag Rowohlt, Berlin 2018 (Leseprobe als PDF)

Lethen: Das war ein wechselseitiger Nutzen. Im Ausland hieß es: Der Nationalsozialismus ist ein Rückfall in die Barbarei. Und die Nazis sagten: „Seht her, wir haben diese Koryphäen auf unserer Seite, also ist es kein Rückfall in die Barbarei!“ Für sie waren die vier Staatsräte ein großartiges Reklameschild. Für die vier selbst: Gründgens hätte ohne den Titel „Staatsrat“ vermutlich nicht überlebt. Der SS-Mob hätte den bekannt Homosexuellen extrem gefährdet. Bei Schmitt kann man sehen, dass er weggeworfen wurde, sobald er seine Schuldigkeit getan hatte. Ihm wäre es nach seiner Ausbootung ohne den Titel vermutlich auch dreckiger gegangen.

Wie böse waren die vier Staatsräte?

Lethen: Ich zitiere in dem Buch einen Satz, den Schmitt von Dostojewski übernimmt und offensichtlich gutheißt: „Das Leben kräftigt sich aus dem Born des Bösen, die Moral aber leitet ab in den Tod.“ Schmitts bester Freund, der Finanzminister Johannes Popitz hatte aufflackernde Momente der Moral und wurde dafür hingerichtet (nach dem gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944, Anm.). Schmitt hingegen überlebt „am Born des Bösen“. Gründgens hat eine Bühne für das Böse geschaffen, indem er die noblen Mordgesellen bei Shakespeare darstellen konnte. Sauerbruch kannte die Unterscheidung von böse und nicht böse nicht so genau, weil er seine Villa zwar Widerständlern zur Verfügung stellte, zugleich im Reichforschungsrat aber Menschenexperimente guthieß. Und Furtwängler rettete sich in die Immunität der Klassik, und immun heißt: Er stand sowieso jenseits von Gut und Böse.

Wie passen Virtuosität und dieses „Jenseits von Gut und Böse“ zusammen?

Lethen: Geistige Brillanz kann sich auf einem Gebiet abspielen, das sich abgespalten hat von Praktiken, in denen ethische Normen herrschen. Das Böse hat immer die besten Verhältnisse unterhalten zum Esprit. Insofern würde ich heute sagen: Die vier waren brillant und böse. Oder: brillant böse. Ich habe erst jetzt Hannah Arendts Buch „Elemente der totalen Herrschaft“ gelesen - früher durften wir das nicht, weil es unter Totalitarismusverdacht stand und Stalin mit Hitler gleichsetzte. Was für ein fantastisches Buch! Arendt denkt, dass die NS-Diktatur keine monolithische Struktur hatte, sondern die staatlichen Instanzen reine Blendarchitektur waren. Dahinter stand das absolute Gewaltmonopol des Parteiapparats. Und zum Bösen sagt sie: Sie kann es gar nicht definieren, weil es so in der Alltäglichkeit untergeht, dass es schwer ist, etwas als besonders böse zu charakterisieren.

Porträtfoto von Helmut Lethen

Lukas Wieselberg, ORF

Helmut Lethen im ORF-Funkhaus in Wien

Bei einer Konferenz vor zwei Jahren haben Sie die vier als „virtuos, aber unfähig zu sozialer Empathie“ charakterisiert. Danach haben Sie Ihr Buch geschrieben: Was ist seither noch dazugekommen?

Lethen: Zum einen ist mir klar geworden, wie wichtig Göring war: Er war der entscheidende Jakobiner der Umsturzphase, der für die nötige Unordnung sorgte und gleichzeitig mit der Gestapo ein stählernes Ordnungssystem aufrichtete. Zum anderen habe ich den vier Exzentrikern Körper gegeben - so wie man Grabbeigaben in das Grab der Toten legt. Das hat großen Spaß gemacht: den baumlangen Furtwängler als Leptosomen zu charakterisieren, das kluge Carlchen Schmitt als Pykniker und Gründgens als Neurastheniker.

Diese Körperbaucharakterisierung lassen Sie in den fiktiven Gesprächen des Buchs Sauerbruch vornehmen. Wie haben Sie generell diese Gespräche konzipiert?

Lethen: Durch Klebearbeit. Ich konnte z. B. nicht wissen, wie sich Göring verhalten hat, als er zur „Faust“-Vorstellung 1932 von Gründgens geht. Aber es gibt ein hervorragende Quelle: Klaus Manns „Mephisto“, der die Szene ausführlich beschreibt. Also habe ich Manns Beschreibung, die auch fingiert ist, in meinen Text reinmontiert. Und wenn Sauerbruch sich Gedanken macht, wie sein Tag an der Charite als Chirurg verlaufen wird, lege ich ihm einen inneren Monolog in den Mund, den Gottfried Benn 1916 unter dem Titel „Gehirne“ geschrieben hat. Und Gründgens ist der Klügste von allen, weil er, ohne die Quellen zu nennen, aus den „Verhaltenslehren der Kälte“ zitiert – meinem eigenen Buch von 1994 (lacht).

Warum überhaupt die fingierten Gespräche?

Lethen: Fiktionen sind nützliche Hilfskonstruktionen, um der Wirklichkeit näherzukommen. Deshalb hab ich die vier experimentell an einen Tisch gesetzt. Die Idee war: Wenn sie sich gegenseitig in die Augen schauen und bemerken, welche Instrumente des Nazi-Regimes sie sind, müssten sie eigentlich versinken vor Scham. Das ist aber nicht geschehen. Sie schämten sich für überhaupt gar nichts.

Wie ordnen Sie die vier Staatsräte ein in die Geschichte der Kollaboration von Intelligenz und Nationalsozialismus?

Lethen: Ich bin erst relativ spät auf den Fall der Kaiser Wilhelm Gesellschaft gestoßen - Weltspitzenforscher in Physik, Metallurgie, Chemie, Biowissenschaften etc. Sie erklären, warum der Krieg so lange geführt werden konnte. Dort sind die politikfreien Räume, die die wichtigsten Ressourcen waren für den deutschen Waffengang. Es gibt dazu zwar 18 Bände im Wallstein-Verlag, aber da ist noch immer viel unaufgearbeitet. Gemessen daran sind meine vier doch nur Komiker.

Ein Gedankenspiel: Wo wären die vier Staatsräte, wenn sie heute leben würden?

Lethen: Wo Halbgötter immer landen: im Himmel. Furtwänglers Porträt hängt ja noch bei Barenboim im Dirigentenzimmer, er ist nach wie vor eine hoch verehrte Figur. Sauerbruch war enorm fortgeschritten mit seinen Prothesen, er würde sie heute wohl mit der NASA oder im Silicon Valley herstellen. Schmitt hat im Augenblick außerordentlich große Resonanz in akademischen Kreisen in den USA, dem würde es auch sehr gut gehen. Gründgens würde komischerweise die größten Schwierigkeiten haben, weil er seinen Körper eingesetzt hat. Er hat immer gesagt: „Am großartigsten ist es, einen lebendigen Menschen auf der Bühne zu haben, dessen Impressionen nicht nur technisch gespeichert sind.“ Das Verdunsten des Körpers in den Neuen Medien hätte ihm nicht behagt.

Und wo würden sie politisch stehen?

Lethen: Über dem Parteiengerangel. Sie würden sagen: „Mit der Politik haben wir uns schon mal die Finger verbrannt. Das machen wir nicht nochmal.“ Sie würden ihre exklusiven Räume haben, in denen sie Könige sind.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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