Das zweite Leben des Kurt Schuschnigg

Als Kanzler im autoritären Ständestaat ist Kurt Schuschnigg einer der mächtigsten Männer der Ersten Republik. Dem „Anschluss“ folgen sieben Jahre als Sondergefangener Nazi-Deutschlands. 1947 emigriert Schuschnigg schließlich in die USA - und beginnt ein neues Leben.

Mit dem „Anschluss“ 1938 dankt Kurt Schuschnigg als Bundeskanzler ab und wird zu einem der prominentesten Gefangenen Adolf Hitlers: zuerst im Gestapo-Gefängnis am Wiener Morzinplatz, später in München, ab 1941 dann im KZ Sachsenhausen, nördlich von Berlin. Schuschnigg, der mit dem Decknamen „Dr. Auster“ versehen wird, hat eine privilegierte Stellung: Er muss nicht in einer der KZ-Baracken schlafen, sondern in der bessergestellten Prominentenabteilung des Lagers. Sogar Besuch von seiner zweiten Frau Vera darf er empfangen.

Als der Zweite Weltkrieg vorbei ist, arbeitet Schuschnigg an einer Rückkehr nach Österreich. Doch in der Heimat haben sich die Zeiten geändert: Leopold Figl, Felix Hurdes und Julius Raab haben gemeinsam mit weiteren Mitstreitern im April 1945 eine neue Partei gegründet: die „Österreichische Volkspartei“, die ÖVP. Sie wollen das bürgerliche Lager in seiner ganzen Breite ansprechen, auch über alle religiösen Grenzen hinweg. Keineswegs aber wollen sie das christlich-soziale Erbe von Engelbert Dollfuss – und eben von Schuschnigg – antreten. Für Letzteren ist folglich in der neuen Partei seiner alten Gesinnungsfreunde kein Platz.

Auszug/Scan: Brief von Kurt Schuschnigg

ORF/Heinrich Schuschnigg

„Es gibt eine Reihe an Personen, die von ÖVP-Mandataren am Altar des Antiaustrofaschismus geopfert werden“, sagt der Historiker Dieter A. Binder von der Universität Graz. „Das betrifft als prominenteste Figur Kurt Schuschnigg.“ Wie tief die Enttäuschung sitzt, zeigt ein privater Brief aus dem Jahr 1947, den Schuschnigg an seinen Onkel schreibt: „Die sogenannte Kameradschaft und Freundschaft hatte ich mir einmal ganz anders vorgestellt. Ob die Geradlinigkeit wirklich so schwer ist? Gescheit scheint sie ja derzeit nicht zu sein, oder besser gesagt: nicht modern.“

Neues Ziel: St. Louis, Missouri, USA

So brechen für Schuschnigg neue Zeiten an. Über Vermittlung eines Freundes aus gemeinsamen Innsbrucker Tagen geht er mit seiner Familie in die USA. Von 1947 bis 1967 unterrichtet er fortan an der Saint Louis University, als Professor für Staats- und Politikwissenschaft. Die Hochschule im Bundesstaat Missouri wird von Jesuiten geführt – wie das Privatgymnasium in Feldkirch, das Schuschnigg einst besuchte.

Kurt Schuschnigg mit Tochter Maria Dolores Elisabeth und seiner zweiten Ehefrau Vera bei der Ankunft in New York, September 1947

ORF/Heinrich Schuschnigg

Kurt Schuschnigg mit Tochter Maria Dolores Elisabeth und seiner zweiten Ehefrau Vera bei der Ankunft in New York, September 1947

Religion spielt auch in Schuschniggs „zweitem Leben“ eine Rolle, Politik verliert hingegen an Bedeutung. Zwar referiert er in seinen Vorlesungen über jene Zeit, in der er mit Benito Mussolini oder Hitler am Verhandlungstisch saß. Seine eigene Rolle spricht er dabei aber nicht an: „Er wollte seine Biografie nicht in die Vorlesungen einbringen“, sagt John Padberg, ehemaliger Student und späterer Professorenkollege an der Saint Louis University. „Er sprach über die 30er Jahre, über Dollfuss und die Streiks im ‚Roten Wien‘. Aber er machte das weder erfreut noch wütend.“

St. Louis wird für Schuschnigg zur zweiten Heimat, 1956 erhält er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Am Campus der Universität, der ältesten Jesuiten-Hochschule westlich des Mississippi, tuscheln die Studierenden über den großen, hageren Professor aus Europa, der einen starken Akzent hat und früher einmal ein wichtiger Politiker gewesen sein soll.

Programmhinweis

Zum 80. Jahrestag der Geschehnisse rund um den „Anschluss“ im März 1938 zeigt ORF2 heute ab 21:15 Uhr in „Menschen & Mächte“ die Dokumentation „Kurt Schuschnigg: katholisch – diktatorisch – amerikanisch“.

Buchhinweise

Dieter A. Binder (Hrsg.): Sofort vernichten. Die vertraulichen Briefe Kurt und Vera von Schuschnigg 1938–1945, Wien 1997.

Anton Hopfgartner: Kurt Schuschnigg. Ein Mann gegen Hitler, 1989.

Der pensionierte Richter Seneca Nolan erinnert sich an Schuschnigg, dessen Vorlesung er im Jahr 1959 das erste Mal besucht hat: „Er war ein gutaussehender Mann, der aufgetreten ist, als würde er vom Militär kommen. Er hatte eine sehr aufrechte Haltung und auch sein Gang war militärisch.“

Gönner Julius Raab

Hoher Besuch aus der Heimat ist zu Beginn sehr selten. Julius Raab, ab 1953 Bundeskanzler, besucht Schuschnigg als einer der Ersten. 1956 macht Raab Schuschnigg zum österreichischen Handelsdelegierten der Niederlassung in St. Louis: Als Chef der Wirtschaftskammer war Raab für die Handelsdelegierten zuständig.

„In dieser Funktion versorgt er Schuschnigg mit einem zusätzlichen Einkommen“, so der Historiker Binder. Warum Raab Schuschnigg, der zur „Persona non grata“ geworden war, gerade zu diesem Zeitpunkt unter die Arme greift, ist unklar. Binder: „Ich glaube, dass Raab eine ambivalente Überlegung gehabt hat: Einerseits die Hilfe für einen alten Kameraden, einen Kameraden aus der k. u. k. Armee, andererseits ein Anreiz für Schuschnigg, um in den USA zu bleiben.“

Keine Aussöhnung mit der ÖVP

Für Schuschnigg ist dieser Posten aber offenbar nicht Anreiz genug. 1967 kehrt er der Saint Louis University den Rücken und verabschiedet sich in Richtung Österreich. Finanziell unabhängig ist er spätestens, seit er im Jahr 1963 eine stattliche Politikerpension zugesprochen bekommen hat.

Schuschnigg (rechts) bei einer Ordensverleihung zu seinem Abschied von der Saint Louis University, Februar 1967

ORF/Saint Louis University

Schuschnigg (rechts) bei einer Ordensverleihung zu seinem Abschied von der Saint Louis University, Februar 1967

Belege dafür, dass Schuschnigg in seinen letzten zehn Lebensjahren in Österreich doch noch der ÖVP beitritt, gibt es keine. „Er war auch nach seiner Rückkehr in den 1960er Jahren sehr distanziert und zurückhaltend“, sagt Historiker Binder. Einzig seinen CV-Bundesbrüdern von der „Akademischen Verbindung Austria Innsbruck“ hält er die Treue – und zum 100-jährigen Stiftungsfest der „Austria“, der ältesten katholischen Verbindung Österreichs, sogar die Festrede.

Kurt Schuschnigg mit „Austria“-Bundesbruder Otto Ender bei einem Heimatbesuch, 1957

ORF/Archiv A.V. Austria Innsbruck

Kurt Schuschnigg mit „Austria“-Bundesbruder Otto Ender bei einem Heimatbesuch, 1957

Obwohl Schuschnigg 1977 in Österreich stirbt, ist der Lebensabschnitt nach dem Zweiten Weltkrieg von seiner zweiten Heimat, den USA, geprägt. Wie hatte er doch schon 1963, einigermaßen verblüfft, in einem Brief festgestellt: „Komisch, dass ich in meinem Leben an keinem Platz länger ununterbrochen war als in St. Louis.“

Andreas Novak und Gregor Stuhlpfarrer, ORF Bildung und Zeitgeschehen

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