1938: Drei Tage Demokratie

Als Österreich 1938 vom Deutschen Reich annektiert wurde, trafen die Nazis nur auf geringen Widerstand. Der Zeithistoriker Oliver Rathkolb beleuchtet in einem Gastbeitrag die Vorgeschichte: eine Zusammenschau verdrängter Perspektiven.

Engelbert Dollfuß verbot die NSDAP in Österreich bereits am 19. Juni 1933 aufgrund der blutigen Terrorattentate mit zahlreichen Toten und Verletzten, nachdem er nach dem 4. März 1933 durch Verfassungsbruch die parlamentarische Demokratie zerstört hatte. Obwohl er bei einem dilettantischen und gescheiterten Putschversuch österreichischer Nationalsozialisten im Juli 1934 ermordet worden war, reagierte sein Nachfolger als Kanzler, Kurt Schuschnigg, auf den Verlust des Schutzes des faschistischen Italiens unter Benito Mussolini mit einem unerwarteten „Ausgleich“ mit Hitler-Deutschland.

Der mächtige Guido Schmidt

Die Schlüsselfigur in dieser Annäherung durch das Juli Abkommen 1936 war der österreichische Staatssekretär Guido Schmidt, der seit 1936 die österreichische Außenpolitik beherrschte. Er war kein NSDAP-Anhänger, aber wie Kanzler Kurt Schuschnigg sehr stark geprägt von einem tiefsitzenden katholischen Deutschnationalismus. Dieser beinhaltete zwar eine österreichische kleinstaatliche Souveränität, die aber kulturell grundsätzlich großdeutsch ausgerichtet war – ebenso wie jene der verbotenen Sozialdemokraten, die aber seit Oktober 1933 zumindest den „Anschluss“ an ein nationalsozialistisches Deutschland aus dem Parteiprogramm gestrichen hatten.

Guido Schmidt, Count Ciano und Kurt Schuschnig bei einem Treffen 1936

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V.l.n.r.: Guido Schmidt, der italienische Außenminister Galeazzo Ciano und Kurt Schuschnigg 1936 in Wien

Schmidt kontrollierte energisch den Zugang zum Kanzler, und selbst engagierte Anti-Nazis aus dem Bereich der Bauernfunktionäre oder der Einheitspartei, der Vaterländischen Front, erhielten keinen oder nur sehr schwer Zugang. Leopold Figl, der spätere ÖVP-Bundeskanzler und überzeugte Anti-Nazi vor 1938, nannte Schmidt einen „ehrgeizigen und rücksichtslosen Karrieristen“, der Bundeskanzler Schuschnigg in seinem Kampf gegen den Nationalsozialismus in die Irre geführt hat.

Schmidt plädierte für eine schnelle Regelung aller Differenzen mit dem Deutschen Reich und wurde daher von altgedienten österreichischen Nazis Adolf Hitler als das am besten für Verhandlungen geeignete Mitglied des Systems empfohlen. Schmidt handhabte selbst die vertraulichsten Kontakte mit dem Deutschen Reich, von denen die zuständigen Beamten, wie bei den Rüstungsgeschäften Ende 1936, absichtlich ausgeschlossen wurden, und sprach Ende November 1936 direkt mit Hitler. Er unterstützte den rassistischen Antibolschewismus Adolf Hitlers auf allen Ebenen - und ersetzte sogar den österreichischen Presseattaché in Berlin, Benjamin Schier, der jüdischer Herkunft war, in vorauseilendem Gehorsam.

„Entjudung von Auslandsvertretern“

Guido Schmidt ordnete überdies die Reduzierung der Zahl der Honorarkonsule jüdischer Herkunft als „Entjudung dieser Kategorie von Auslandsvertretern“ an. Das Juli-Abkommen von 1936, das er führend mitgestaltet hat, war mehr als ein Gentlemen’s Agreement zur Amnestierung von Nationalsozialisten und Integration von NSDAP-Mitgliedern, da sogar die rassistische NS-Politik in Österreich nach und nach de facto akzeptiert wurde (z.B. im österreichischen Filmgeschäft, sodass Juden und Jüdinnen aus Produktionen für den deutschen Markt gestrichen wurden).

Kurt Schuschnigg: Das Ende Österreichs

Im Gegenzug wurde die 1.000-Mark-Sperre (eine Straf- und Boykottsteuer für deutsche Touristen, die nach Österreich kommen wollten) aufgehoben, obwohl sie bereits 1935 nicht mehr so negative Wirkungen entfalten konnte. Schmidts Abhängigkeit von Deutschland war verbunden mit seiner kulturellen Sozialisation, die unter dem Motto stand: Österreich kann keine Politik ohne oder gegen Deutschland betreiben.

Fehlender Widerstand

Historisch gesehen könnte man argumentieren, dass einer der Hauptgründe für den fehlenden Widerstand gegen den „Anschluss“ unter ursprünglich antinazistischen Eliten wie dem österreichischen diplomatischen Corps diese Mischung aus deutschem Nationalismus und politischem Opportunismus war, ergänzt durch einen breiten Antibolschewismus. Weitere Gründe waren das Fehlen demokratischer Erfahrungen sowie die breite Akzeptanz des Autoritarismus als politisches Instrument und als Ersatz für die parlamentarische Demokratie.

Dieser paradoxe Deutschnationalismus – „die Österreicher als die besseren Deutschen“ oder „Österreich als der zweite deutsche Staat“, wie es auch Dollfuß bereits formuliert hatte - ist ein wichtiges Argument, warum die österreichische Außenpolitik letztlich den „Anschluss“ nicht verhinderte, und schlussendlich die internationale Öffentlichkeit davon überzeugt war, dass Deutschland recht hatte.

Literatur

  • Oliver Rathkolb: Erste Republik, Austrofaschismus, Nationalsozialismus, in: Thomas Winkelbauer (Hg.): Geschichte Österreichs, Stuttgart: Reclam 2015, S. 477-524.

Fixierung auf die deutsche Frage

Selbst als Schuschnigg am 11. März nach 18 Uhr unter massivem Druck aus Berlin zurücktrat, argumentierte er entlang der Bedeutung des gemeinsamen deutschen kulturellen Beziehungsgeflechts, um den Widerstand des Bundesheeres, einer Berufsarmee, zu untersagen:

"Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in diesen ernsten Stunden nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, dass der Einmarsch durchgeführt wird, ohne Widerstand sich zurückzuziehen und die Entscheidung der nächsten Stunden abzuwarten … So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!“

Das Hauptproblem der österreichischen Außenpolitik in der Ersten Republik war immer schon die Fixierung auf die deutsche Frage: Bereits im Jänner 1919 erklärte der für Außenpolitik zuständige sozialdemokratische Politiker Otto Bauer etwaige Donauraumallianzen ad absurdum führen zu wollen, um die einzige Alternative, den „Anschluss“ an die demokratische Weimarer Republik zu realisieren.

Während der autoritären Periode der Kanzlerdiktatur in Österreich ab 1933 hatten die faschistische italienische Option und der Schutz Österreichs durch Mussolini alle anderen Optionen und demokratischen Allianzen (beispielsweise mit der Tschechoslowakei) letztlich außer Kraft gesetzt. Selbst das autoritäre Horthy-Ungarn galt als wichtiger Partner. Wegen der engen Verbindung zwischen inneren und internationalen Angelegenheiten beeinflusste die innenpolitische Isolation des Schuschnigg-Regimes auch die internationale Isolation - ein Prozess, der in den 1930er Jahren begonnen hatte. Für die österreichische Außenpolitik war der Völkerbund nie ein wichtiges Forum.

Ein Staatsgeheimnis wird publik

Das nationalsozialistische Deutschland hingegen betrachtete eine demokratische innenpolitische Allianz als reale Bedrohung für seine Aggressionspläne von 1937 gegen Österreich und die Tschechoslowakei. Dies zeigte sich in den drei Tagen der „Demokratie“ vor dem „Anschluss“. Am 4. März 1938 schlug Schuschnigg in einer streng vertraulichen Sitzung als letzten Ausweg eine Volksbefragung vor. Die Protokollführerin übermittelte dieses Staatsgeheimnis jedoch sofort an den deutschen Militärattaché in Wien.

11. März 1938: Menschen auf LKWs in Wien werfen Flügblätter in die Luft

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Wien, am 11. März 1938: Mitglieder der Vaterländischen Front werben für die Volksbefragung

Obwohl Schuschnigg noch von einer Volksbefragung „für ein freies, deutsches, unabhängiges und soziales, christliches und einiges Österreich" sprach, zeigten die österreichischen Arbeiter und Arbeiterinnen – ehemalige Sozialdemokraten und Kommunisten - trotz aller ideologischen Bedenken ihre Bereitschaft, für die Unabhängigkeit Österreichs zu stimmen. In Wiener Arbeiterheimen versammelten sich vertrauenswürdige Vertreter der Arbeiterbewegung und schlossen sich mit Schuschnigg-Unterstützern zusammen, um für die Unabhängigkeit des Landes auf den Straßen öffentlich zu demonstrieren.

Selbst die Revolutionären Sozialisten, zu denen auch der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky gehörte, der eineinhalb Jahre vor 1938 als „Hochverräter“ in Haft gewesen war, appellierten an ihre Anhänger, Österreich zu wählen. Auch die offizielle katholische Kirche und die evangelische Kirche unterstützten diesen Massenappell.

Folgen einer Farce

Nachdem Schuschnigg am 9. März in Innsbruck eine trotzige Rede gehalten hatte, in der er offiziell die bereits verratene Volksbefragung bekannt gab, und interne Erhebungen bestätigten, dass sie eine überwältigende Unterstützung erhalten würde, erhöhten die Nationalsozialisten ihren Druck. Die deutsche Reichsregierung verlangte Schuschniggs Widerruf der Volksbefragung - ein Wunsch, dem er unverzüglich Folge leistete. Auf diese Weise hatte er seine letzte Chance vergeben.

Sein Rücktritt und die Vereidigung einer Nazi-Regierung unter dem deutschnationalen bekennenden Katholiken Arthur Seyß-Inquart als Bundeskanzler, die Präsident Miklas beharrlich abzulehnen versucht hatte, hinderten Hitler am 12. März nicht daran, in Österreich einmarschieren zu lassen.

Deutsche Polizeitruppen marschieren in Formation

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Imst, am 12. März 1938: Deutsche Polizeitruppen marschieren ein - die Bevölkerung akklamiert

Wenn es zumindest einige Tage militärischen Widerstand gegeben hätte, wie dies beispielsweise der damals junge Leutnant Emil Spannocchi gefordert hatte, wäre die Farce des „Anschlusses“ wie eine Seifenblase zerplatzt, und international wäre Deutschland eindeutig als Aggressor gebrandmarkt worden. Vielleicht wäre dann das schandbare Münchner Abkommen vom September 1938 über die Zerschlagung der demokratischen Tschechoslowakei vermieden worden.

So war es kein Zufall, dass am 19. März nur das international antifaschistisch agierende Mexiko als einziges Land beim Genfer Völkerbund einen offiziellen Protest gegen den „Anschluss“ einbrachte. Am 11. Juni äußerte Chile sein Bedauern darüber, dass Österreich als Mitglied der Liga verschwand, und die Republikanische Regierung Spaniens erklärte, dass die Deutschen Österreich verschlungen hätten. Am 21. September publizierte der Völkerbund, dass die Sowjetunion im März vergeblich versucht hatte, Großbritannien und Frankreich zu einem gemeinsamen Protest zu motivieren.

Oliver Rathkolb, Universität Wien

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