Kolonialbeamte prägten Zukunft Afrikas

Mitte des 20. Jahrhunderts sind die europäischen Kolonialmächte aus Afrika abgezogen. Die Kolonialbeamten spielten für die wirtschaftliche Zukunft der jungen Länder eine wichtige Rolle, wie der Entwicklungsökonom Valentin Seidler in einem Gastbeitrag schreibt.

Im Jahr 1954 schiffte sich der 23-jährige David Le Breton nach Daressalam im heutigen Tansania ein. Er hatte die Aufnahme in den britischen Kolonialdienst bestanden und wurde als junger Kadett in ein ihm unbekanntes Land geschickt. In England wartete die Verlobte auf ein erstes Einkommen und den damit verbundenen Heiratsantrag, zu dem es allerdings nie kam.

Porträtfoto von Valentin Seidler

Valentin Seidler

Über den Autor:

Valentin Seidler lehrt Entwicklungsökonomie an der Universität Wien und ist ein Resident Fellow am Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft. Publikationen (Auswahl): “Copying informal institutions: the role of British colonial officers during the decolonization of British Africa“, in: Journal of Institutional Economics; “Colonial Bureaucrats, Institutional Transplants, and Development in the 20th Century“ in: Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte

In Tanganjika erwartete ihn ein Land im Umbruch, das sieben Jahre später bereits unabhängig werden sollte. Aus einer lebenslangen Laufbahn in britischen Kolonien wurde nichts. Die Verlobte fand einen anderen und David war damit beschäftigt, im Eiltempo seinen eigenen Nachfolger auszubilden. Als Privatsekretär des Gouverneurs hatte er gute Einblicke in die letzte Periode britischer Verwaltung in Afrika.

Personalakten von 14.000 Beamten

David Le Breton ist heute 88 Jahre alt und lebt in der Grafschaft Kent. Er ist einer der letzten noch lebenden Kolonialbeamten des Empires. Im Rahmen des Zeitgeschichtetages 2018 am 6. April in Wien wird er aus Briefen an seine Verlobte und an seine Mutter vorlesen.

Mein neues Forschungsprojekt zeigt, dass die Arbeit von David und seinen Kollegen bei der Vorbereitung der Kolonien auf ihre Unabhängigkeit maßgeblich die weitere politische und ökonomische Entwicklung ehemaliger Kolonien beeinflusste. Sie wurde bis jetzt noch nicht untersucht, weil wir nicht viel über diese Beamten wussten.

Zwischen 2015 und 2018 habe ich die Personalakten von allen 14.000 höheren Beamten gesammelt, die zwischen 1939 und 1966 in 45 Kolonien gearbeitet haben. Über 100 der noch lebenden Beamten wurden von meinem Team interviewt. Was können wir von diesen Quellen lernen?

Auswirkung auf Korruption

Erste Ergebnisse, die am ebenfalls am Zeitgeschichtetag in Wien präsentiert werden, zeigen, dass das Fachwissen britischer (und später lokaler) Kolonialbeamter ganz entscheidend die politischen und ökonomischen Institutionen einer ehemaligen Kolonie prägen. Wir sehen zum Beispiel weniger Korruption in Kolonien, die ehemalige Kolonialbeamte einluden noch weitere fünf Jahre im Land zu bleiben (oder bis alle Stellen nachbesetzt werden konnten). Der Effekt ist am stärksten bei Kolonialbeamten mit juristischer Ausbildung.

Tatsächlich war das Übertragen von britischen Institutionen wie etwa dem Pass- und Meldewesen in die Kolonien nicht zuletzt legistische Arbeit. Solche „Übertragungsarbeiten“ waren Teil der Vorbereitungen der Kolonien auf die Unabhängigkeit und begannen erst in den 1950er Jahren. Davor wurden die Kolonien von einer dünnen weißen Oberschicht mittels „indirect rule“ regiert, mit wenig Bestrebungen, die Kolonien politisch zu entwickeln. Das Vorhandensein von Fachexperten (Juristen, Ingenieuren etc.) war oft dem Zufall geschuldet.

Beispiel Ostafrika: Von Fischzucht bis Statistik

Ein Beispiel dazu aus Ostafrika: Im Jahr 1927 schufen die Gouverneure der drei britischen Kolonien Tanganjika (später Tansania), Uganda und Kenia die „East African Governors Conference“. Das ursprüngliche Ziel war eine bessere Zusammenarbeit beim Fischfang im Victoriasee, an den diese drei Länder grenzen. Britische Fischereiexperten legten unter anderem Fangquoten fest, um eine Überfischung zu vermeiden.

Ausladen von Fracht am Victoriasee

Valentin Seidler

Ausladen von Fracht am Victoriasee 1962, aufgenommen vom Agronomen Alexander Allan

In der historischen Auseinandersetzung mit dem Kontinent Afrika ist diese Übereinkunft aus dem Jahr 1927 nur eine Randerscheinung. Zu Unrecht: Die „East African Governors Conference“ entwickelte sich stetig weiter. 30 Jahre später, kurz vor der Unabhängigkeit der drei Kolonien in den 1960er Jahren, koordinierte das Forum ein breites Portfolio vom Zug- und Straßenverkehr über den Binnenhandel bis zur Veterinärforschung.

Kenia profitierte davon am meisten. Das Hauptquartier in Nairobi und die verschiedenen Agenturen in Kenia beschäftigten über 800 britische Experten des Verkehrswesens, Ingenieure, Juristen, Statistiker, Ökonomen und natürlich Fischereifachleute. Die Rolle dieser Männer und Frauen bei den Vorbereitungen für die Unabhängigkeit und ihre Bedeutung für den späteren Entwicklungspfad Kenias können nun erforscht werden.

Viele ehemalige Soldaten

Die Personalakten zeigen, dass 3.000 der 14.000 höheren Beamten zwischen 1945 und 1948 eingestellt wurden. 90 Prozent davon hatten im Weltkrieg gedient und in den Kolonien gekämpft. Nach dem Ende der Kampfhandlungen warteten zwei Millionen Soldaten in den Kolonien auf ihren Transport nach Hause.

Viele darunter hatten vor 1938 Berufe ausgeübt, die in den Kolonien dringend benötigt wurden, und die Kolonialverwaltungen begannen zwischen 1945 und 1948 daher, den wartenden Soldaten eine lebenslange Laufbahn direkt an Ort und Stelle anzubieten. Viele der abgerüsteten Soldaten sollten zehn Jahre später die Kolonien auf ihre Unabhängigkeit vorbereiten.

Ampel in Ost-Timor: Missglücktes Transplant

Mein Interesse am Zusammenhang zwischen Kolonialbeamten und Fachwissen hat noch einen weiteren, viel aktuelleren Grund. In der heutigen Entwicklungspolitik wird die Bedeutung von gut eingearbeiteten Experten unterschätzt.

Um die Bedeutung dieser Fachleute zu verstehen, machen wir einen Sprung in das Jahr 2005 nach Ost-Timor, einem kleinen Inselstaat in Südostasien. Die junge Republik Ost-Timor beschloss, ihre erste Ampel zu installieren. Ich war damals als Entwicklungshelfer des Roten Kreuzes in Osttimor und konnte die Vorgänge mitverfolgen. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Ost-Timor keinen Führerschein, keine Verkehrspolizei und keine Straßenverkehrsordnung in unserem Sinn.

Dazu kam, dass die Ampel verkehrstechnisch nicht optimal an einem Kreisverkehr aufgestellt war, und es kam zu Unfällen. Die Ampel wurde wieder entfernt. Niemand der Verantwortlichen hatte ausreichend Fachwissen und Erfahrung mit Verkehrsampeln gehabt, dieses Problem vorherzusehen.

East Timor's erste Ampel

Yuki Seidler

Ost-Timor erste Ampel

Für institutionelle Ökonomen ist die Ampel ein sogenannter „Transplant“ - der Versuch, eine Rechtsordnung aus einem fremden Kulturkreis heraus zu importieren. Das Kopieren von Institutionen aus dem Ausland ist sehr häufig.

Wussten Sie, dass der Kreisverkehr eine englische Erfindung aus dem 18. Jahrhundert ist? Bekannter ist da schon der Versuch Japans, europäische Rechtsordnungen und Organisationsformen während der Meiji-Restauration (zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts) zu importieren. Tatsächlich sind bedeutende Entwicklungsinitiativen von heute zumindest zum Teil Transplante und verbinden Kreditvergabe o. ä. mit dem Befolgen von (westlichen) Standards und dem Nutzen von westlicher Technologie.

Erste Ergebnisse an die Öffentlichkeit

Ein britischer Kolonialbeamter diente im Durschnitt fünf Jahre in einem Land: verglichen mit der Einsatzdauer von Entwicklungsexperten heute eine sehr lange Zeit. Doch was genau haben diese britischen Experten getan? Wie hat ihr Alltag ausgesehen? Was wurde aus der Lebensplanung eines Kolonialbeamten ohne Kolonien?

Zeitgeschichtetag 2018

Das Panel von Valentin Seidler, an dem David Le Breton vortragen wird, findet am 6. April von 9 bis 10.30 Uhr an der Uni Wien, im Seminarraum 7 in der Währingerstraße 29, statt.

Wir haben sie gefragt. Mein Forschungsprojekt „VOICES“ versucht seit gut 18 Monaten, alle noch lebenden Kolonialbeamten zu finden und zu interviewen. Am Zeitgeschichtetag 2018 präsentiere ich die Ergebnisse zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit. Über 100 Interviews, weit über 100.000 Seiten Privatdokumente, Fotosammlungen und Privatfilme (8mm) sind es geworden, die in den nächsten Jahren systematisch analysiert werden.

David Le Breton, der aus seiner Karriere in Tansania erzählen wird, verließ das unabhängige Tansania im Jahr 1963, zwei Jahre nach der Unabhängigkeit. Er war dem Aufruf des jungen Präsidenten Julius Nyerere gefolgt und hatte seine Dienstzeit verlängern lassen. Danach folgte eine Karriere im diplomatischen Dienst, unter anderem in Bratislava.

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