Wie ausradierte Schriften lesbar werden

Auf mittelalterlichen Pergamenten verbergen sich mitunter ausradierte Schriften. Mit neuen Methoden bringen Forscher die Texte auf diesen Palimpsesten heute wieder zum Vorschein.

Im Mittelalter schrieb man in Europa und im Nahen Osten auf Tierhaut in Form von Pergament. Doch dieses Schreibmaterial war teuer. Deshalb verwendeten die Gelehrten das Pergament oft zweimal. Mit Messern und Bimssteinen schabten sie die alte Schrift ab und beschrieben sie neu. Diese recycelten Pergamente heißen dann Palimpseste.

Der ausradierte Text in Blau: Gospel of Luke, 5.Jahrhundert

St. Catherine's Monastery of the Sinai. Spectral imaging by EMEL

Der ausradierte Text in Blau: Gospel of Luke, 5.Jahrhundert

Mit speziellen Methoden lassen sich die unteren Schriften jedoch wieder zum Vorschein bringen. Wie das am besten geht und welche neuen Erkenntnisse die verborgenen Schriften bringen, ist Thema einer internationalen Konferenz, die derzeit an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien stattfindet.

Die weltweit größte Sammlung von Palimpsesten befindet sich im Katharinenkloster im ägyptischen Sinai. Von hier gibt es eine Verbindung nach Wien: Claudia Rapp, Leiterin der Abteilung Byzanzforschung am Institut für Mittelalterforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, leitet auch ein Team von Wissenschaftlern, das an einem Palimpsest-Forschungsprojekt im Katharinenkloster gearbeitet hat. Hier lagern alte Handschriften aus mehreren Jahrhunderten.

Wie Detektivarbeit

Die erste Herausforderung für die Wissenschaftler ist es, überhaupt zu erkennen, unter welcher der vielen Handschriften sich ein Palimpsest verbirgt. Sie habe einen verfeinerten Blick für das Erkennen der Palimpseste entwickelt, meint Claudia Rapp. „Zum Beispiel ist ein Pergament, das palimpsestiert ist, steifer. Es ist nicht so biegsam und hat manchmal eine rauhe Oberflächenstruktur, wo der Bimsstein oder das Messer den unteren Text abgeschabt hat. So werden wir aufmerksam.“

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Mittagsjournal am 25.4. um 12:00

Zum zweiten Mal beschriftet und damit recycelt, das wurden die Pergamente zum Teil schon im 8. Jahrhundert. Bei der Zweitverwendung des Pergaments ging es meist um Gebrauchstexte für den Kirchenalltag. Die abgekratzte Erstbeschriftung ist Jahrhunderte, manchmal auch nur Jahrzehnte älter als die Zweitschrift. Es gibt mehrere Methoden, sie wieder sichtbar zu machen. Claudia Rapp und ihr Team arbeiten mit einer neu entwickelten speziellen Beleuchtung, der sogenannten „transmissive light methode“: „Dabei wird eine erleuchtete Scheibe unter eine Pergamentseite in einem Buch gelegt, um sichtbar zu machen, wo die Tinte sich in das Pergament gefressen hat. Das ist der sogenannte Tintenfraß und anhand des Tintenfraß kann man erkennen, wo das Pergament eben dünner geworden ist.“

Das Sinai Palimpsest Project

Das Sichtbarmachen der alten Schriften kann für die Handschriftenforschung und auch die Literaturwissenschaften neue Erkenntnisse bringen. Im aktuellen Forschungsprojekt „Sinai Palimpsest Project“, einer Kooperation des Klosters mit der „Early Manuscripts Electronic Library“ in Kalifornien und der University of California, gefördert durch den Arcadia Fund in London, entdeckten Claudia Rapp und ihr Team bisher unbekannte Texte aus der klassischen griechischen Literatur.

Ausradierter Text in Rot. Aramäischer Text aus dem 6. oder 7. Jahrhundert

St. Catherine's Monastery of the Sinai. Spectral imaging by EMEL

Ausradierter Text in Rot. Aramäischer Text aus dem 6. oder 7. Jahrhundert

Manchmal tauchen auch unbekannte Sprachen auf, etwa das kaukasische Albanisch, das man bereits in den 1970er Jahren auf Sinai-Palimpsesten fand. „Bis dahin wusste man von der Existenz dieser Sprache nur durch einige Worte von Inschriften auf Stein und durch ein überliefertes Glossar“, so Claudia Rapp.

Auch in Wien lagern Palimpseste

Palimpseste gibt es auch in Wien: Die Nationalbibliothek hat 23 Palimpseste archiviert, auch sie werden auf der Konferenz vorgestellt. Die Philologin Jana Gruskova hat sich in mehreren Forschungsprojekten mit den Palimpsesten beschäftigt, und dabei auch mit dem Wiener CIMA (Centre of Image and Material Analysis in Cultural Heritage) zusammengearbeitet.

Es handelt sich hierbei etwa um Fragmente eines griechischen Grammatikhefts aus der Antike oder um bisher unbekannte Rechtstexte aus dem byzantinischen Mittelalter. Auch eine Abhandlung eines bisher unbekannten Historikers zur Einwanderung der Ostgoten im pannonischen Raum ist durch die Palimpsest-Forschung wieder aufgetaucht.

Hanna Ronzheimer, Ö1-Wissenschaft

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