Karl Polanyi nun in bester Gesellschaft

Eine Wirtschaft ohne Regeln zerstört die Freiheit, auf der sie beruht: Diese Ansicht vertrat der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi in den 1940er Jahren – sie ist nach wie vor aktuell, meinen die Vertreter einer Polanyi-Gesellschaft, die gestern in Wien gegründet wurde.

Polanyi-Gesellschaften gibt es weltweit einige, etwa in Montreal, wo sich das Karl Polanyi Institute of Political Economy vor allem mit dem Archiv und der Interpretation seines Werks beschäftigt.

In der nun in Wien gegründeten „International Karl Polanyi Society“ soll der Wert des Sozioökonomen für aktuelle Fragestellungen diskutiert werden. Etwa was die ökologische Krise betrifft oder die in vielen Ländern autoritärer und nationalistischer werdenden Antworten auf die globalisierte Wirtschaft.

Tochter als Ehrenpräsidentin

„Polanyi hat nicht die Antworten auf all die Fragen, das wäre vermessen“, sagt Andreas Novy, der erste Präsident der Gesellschaft und Leiter des Institute for Multi-Level Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien. „Aber es gibt wenige, die so präzise Fragen gestellt haben, wie er. Etwa ob ein Wirtschafsliberalismus die Demokratie auf lange Sicht nicht untergräbt, was eine zentrale These von Polanyi ist.“

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 9.5., 13:55 Uhr.

Adressaten für die neue Gesellschaft sind Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen, Erwachsenen- und Weiterbildung sowie Institutionen wie die Arbeiterkammer – an der die Gründung gestern Abend formal beschlossen wurde. Mit dabei war auch Kari Polanyi Levitt, die heute 95-jährige Tochter von Karl Polanyi und selbst eine bekannte Wirtschaftswissenschaftlerin in Kanada. „Die Gründung der Gesellschaft in Wien ist auch ein Stückweit eine Rückkehr von ihr und ihrem Vater in ihre Heimatstadt“, sagt Novy. Polanyi Levitt wurde zur Ehrenpräsidentin ernannt.

“Selbstregulierende Markt ist krasse Utopie“

Karl Polanyi wurde 1886 in Budapest geboren, verbrachte die 1920er Jahre im „Roten Wien“ und flog dann vor dem Nationalsozialismus erst nach London und dann nach New York und Kanada. Sein bekanntestes Buch hat er 1944 veröffentlicht: „The Great Transformation“.

Eine zentrale Aussage daraus: „Wir vertreten die These, dass die Idee eines selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutete. Eine solche Institution konnte über längere Zeiträume nicht bestehen ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten; sie hätte den Menschen physisch zerstört und seine Umwelt in eine Wildnis verwandelt.“

Polanyi schrieb in der Vergangenheitsform, weil er die Geschehnisse des 19. und 20. Jahrhunderts im Blick hatte. Die beiden Weltkriege hatten „die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft“ schon fast vernichtet. Für Polanyi waren die Kriege, der Faschismus, aber auch der Kommunismus Folgen der vorangegangenen Wirtschaftskrisen. Und diese beruhen auf der Verselbständigung der Ökonomie. Der Kapitalismus ist nicht mehr in die Gesellschaft eingebettet, so wie es die anderen Wirtschaftsformen in der Geschichte immer waren, sondern das Verhältnis hat sich umgedreht. Der Kapitalismus hat sich von der Gesellschaft „ent-bettet“, er zwingt ihr seine Logik vom freien Austausch der Waren auf allen Ebenen auf. Alles wird der Logik des Marktes untergeordnet, auch Arbeit, Natur und Geld.

Bewegungen und Gegenbewegungen

Polanyi war nicht prinzipiell gegen Märkte, aber der Ansicht, dass zu viel Markt der Gesellschaft schadet. Wenn Arbeit, Geld und Natur zur Ware werden, und es keine Regeln für ihren Austausch gibt, dann zerstört das irgendwann die Freiheit, in deren Namen der Kapitalismus regiert. Polanyi hat dafür ein recht einfaches Reaktionsmodell entwickelt: Auf jede Bewegung folgt für ihn eine Gegenbewegung.

Die Bewegung, das ist etwa der liberale Laissez-Faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Die Gegenbewegung, das sind Versuche der Gesellschaft, den Kapitalismus wieder zu zügeln. Etwa durch Arbeits- und Sozialgesetze, Gewerkschaften und internationale Verträge. Polanyi verstand die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts als Teil dieser „Doppelbewegung“: Sozialismus, Faschismus, aber auch der amerikanische New Deal und die europäischen Wohlfahrtsstaaten waren für ihn Antworten auf unregulierte Marktwirtschaften.

Neue Deregulierungen

Dass sich die Wirtschaft seit den 1970er Jahren wieder in Richtung Deregulierung bewegt hat, konnte Polanyi nicht vorhersehen und nicht mehr erleben – er starb 1964 in der kanadischen Stadt Pickering. Die globalisierte Wirtschaft und die aktuellen Reaktionen darauf – nationalpopulistische Regierungen, neue Abschottungen und wirtschaftlichen Protektionismus – machen Polanyi aktueller denn je, meint Brigitte Aulenbacher, die Vizepräsidentin der neuen Gesellschaft und Leiterin der Abteilung für Theoretische Soziologie und Sozialanalysen der Universität Linz.

„Selbst wenn wir die Phase des sich selbst regulierenden Marktes überwunden hätten, entstünde ein noch grundlegenderes Problem. Polanyi nennt es: Wie kann der Menschheit die industrielle Zivilisation überleben? Das ist zweites starkes Motiv, das in der Polanyi-Diskussion viel weniger bekannt ist und dem wir uns in der neuen Gesellschaft widmen wollen.“

Nächstes Jahr soll es dazu in Wien eine große Konferenz geben, auch an die Vergabe von Stipendien und Förderungen für entsprechende Abschlussarbeiten wird von Seiten der Gesellschaft gedacht.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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