Plädoyer für den „böswilligen Kollegen“

Die Wissenschaft steckt in einer Glaubwürdigkeitskrise, diagnostiziert der deutsche Philosoph Martin Carrier. Sein Lösungsvorschlag: Die Wissenschaftslandschaft muss bunter werden - und die Forscher sollten mehr miteinander streiten.

Herr Carrier, wie beurteilen Sie die öffentliche Wahrnehmung der Wissenschaft?

Martin Carrier: Ich denke, die Wissenschaft steckt in einer Glaubwürdigkeitskrise. Das betrifft nicht die Teilchenphysik oder den Urknall. Sondern Wissenschaft, die praktisch wird. Gesundheit, Ernährung - praktische Dinge, die mit dem Leben der Menschen zusammenhängen. Hier erleben wir, dass die Leute der Wissenschaft nicht mehr abnehmen, was sie sagt.

Zur Person

Martin Carrier ist Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungsgebieten zählen u.a. die Theoriengeschichte der Physik und gesellschaftliche Wertvorstellungen in der Wissenschaft. Am 22. Mai hielt er an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften einen Vortrag: „Objektivität, Pluralität und die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft“

Warum?

Carrier: Der Einstrom des großen Geldes, eine gewisse Abhängigkeit von der Politik - das sind die üblichen Begründungen. Ich würde da ein bisschen konstruktiver denken wollen und die Frage stellen: Was kann man tun? Eine Forderung lautet, die Unabhängigkeit der Wissenschaft zu stärken. Das klingt zunächst gut, doch andererseits führt das auch zu Problemen. Wenn wir zum Beispiel die Pharmaforschung von der Industrie lösen, woher kommt dann das Geld für diese Forschung? Wir wollen ja, dass sich Wissenschaft praktischen Problemen widmet, wir wollen, dass sie etwas gegen den Klimawandel macht und vernünftige Batterien für Elektroautos erfindet. Eine andere Forderung wäre, dass die Wissenschaft im Sinne demokratischer Werte tätig wird. Die EU hat das sehr stark aufgegriffen mit ihren Programmen zur verantwortungsvollen Forschung. Das hat auch etwas für sich. Nur haben die Leute eben ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Allgemeinwohl eigentlich ist.

Wie lautet Ihr Lösungsvorschlag?

Carrier: Ich setze auf Diversität. Eine Auseinandersetzung unterschiedlicher Denkansätze führt dazu, dass jeder dieser Ansätze besser geprüft wird. Wenn die Leute aufeinander losgehen, dann können sie sich nicht zurücklehnen, dann werden sie ordentlich zur Brust genommen. Der böswillige Kollege ist immer die beste Herausforderung. Wenn man dafür sorgt, dass eine gewisse Pluralität in der Wissenschaft vorhanden ist, könnte man die Verlässlichkeit steigern. Und zugleich wäre das auch ein Mittel, um die Relevanz der Wissenschaft zu steigern. Die Leute sagen ja: Die Wissenschaft hat gar nichts mit mir zu tun. Wenn man das Spektrum von Forschungsfragen verbreitert, könnte es schon sein, dass sie sich in einem dieser Themen wiederfinden.

Was könnte das konkret bedeuten?

Carrier: Nehmen wir die Pharmaforschung als Beispiel. Da wird an medikamentösen Therapien geforscht, ohne zu bedenken, dass ein Ernährungs- oder Sportprogramm die gleichen oder sogar bessere Wirkungen haben könnte. Dann muss es eben auch vernünftige Forschung geben, die diese Alternativen untersucht.

Wissenschaftsphilosoph Martin Carrier

Czepel/ORF

Martin Carrier an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Zum Grundsätzlichen: Gibt es so etwas wie objektives Wissen?

Carrier: Da gibt es zwei Denkansätze. Der eine besagt: Die wissenschaftliche Gemeinschaft ist sich begründet einig. Objektivität ist demnach Intersubjektivität. Das gibt es ganz sicher. Ein anderer Ansatz wäre zu sagen: Die Wissenschaft erfasst die Wirklichkeit, sie zeigt, was Raum, Zeit und Materie wirklich sind. Es gibt Leute, die sind der Ansicht, dass Wissenschaft auch das kann. Und andere sind da etwas skeptischer. Aber Objektivität ist keinesfalls ein von vornherein verlorenes Geschäft.

Wie ist Ihre persönliche Meinung?

Carrier: Ich begnüge mich gerne mit begründeter Intersubjektivität.

Wenn US-Präsident Trump von alternativen Fakten spricht oder die Existenz des Klimawandels in Frage stellt: Dann würden Sie dennoch mit Verweis auf objektive Fakten antworten, oder?

Carrier: Auf der Ebene der Tatsachen ist es wichtig festzustellen, dass Wissenschaft nicht auf Felsengrund baut. Deshalb sind wir immer irrtumsabhängig. Das haben wir im 20. Jahrhundert gelernt. Aber: Unsere Messungen sind das Beste, was wir haben. Sie sind durch Kritik und Gegenchecks so gehärtet, wie das nur irgendwie möglich ist. Man kann das Möglichste tun, um sich nicht zu irren. Und das tut die Wissenschaft.

Trump könnte darauf antworten: Wenn die Wissenschaft nicht auf Felsengrund baut, dann habe ich auch das Recht, den Klimawandel anzuzweifeln.

Carrier: Es stimmt, dass es in der Klimaforschung noch relativ große Unsicherheiten gibt. Aber das betrifft nicht den menschengemachten Klimawandel. Das ist basale Physik, diese Tatsache ist ziemlich klar. Unsicherheiten gibt es bei den Klimamodellen. Die braucht man für Fragen wie: Wie wird sich die Temperatur bis 2100 verändern? Wie wird sich der Niederschlag verändern? Werden sich Monsungebiete verschieben? Das ist in der Tat noch unsicher. Aber wenn es um das politische Handeln geht, dann kommt es auf diese Feinheiten gar nicht an. Es ist völlig klar, dass wir die Treibhausgasemissionen drosseln müssen.

Könnte es sein, dass Sie als Wissenschaftstheoretiker zwei widersprüchliche Sprechweisen vereinen müssen? Eine relativistische nach innen, an die Fachgemeinde gerichtet - und eine objektiv-faktische nach außen, an die Gesellschaft gerichtet?

Carrier: Ich glaube, das wäre eine schlechte Strategie, denn irgendwann merken die das da draußen. Und dann ist es vorbei mit der eigenen Glaubwürdigkeit! Ich würde mich auch nach innen nicht auf den Relativismus berufen. Was bedeutet Relativismus? Es bedeutet, dass wir verschiedene gleichberechtigte Sichtweisen haben und uns im Urteil in Zurückhaltung üben müssen. Das ist natürlich in vielen Detailfragen so. Wir sind in manchen Bereichen konkret überfordert. Wir wissen noch nicht, welche Temperaturen 2100 auf der Erde herrschen werden. Aber in vielen Fällen gibt es in der Wissenschaft überwiegende Evidenz.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde versucht, die Wissenschaft von der Nicht-Wissenschaft eindeutig zu unterscheiden. Das ist gescheitert, oder?

Carrier: Ja, das kann man so sagen. Solche Abgrenzungsprobleme sind aus der Mode. Popper hat sich daran versucht - Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium - aber heute nimmt ihm das keiner mehr ab. Es gibt immer Gegenbeispiele.

Also wissen wir gar nicht, was Wissenschaft ist?

Carrier: Ein paar Eingrenzungen gibt es schon. Wissenschaft ist zum Beispiel gekennzeichnet durch Erfahrungskontrolle. Oder auch durch Erkenntnisansprüche: Wir wollen Erklärungskraft und Vorhersagen.

Von Biologen würde man allerdings nicht unbedingt fordern, dass sie die Evolution voraussagen.

Carrier: Guter Punkt. Verschiedene Disziplinen haben unterschiedliche Maßstäbe. Die Wissenschaftstheorie war die längste Zeit stark auf die Physik ausgerichtet. Da kommt die Vorhersagekraft her. Das gilt für die Lebenswissenschaften nicht so.

Daraus folgt: Was funktioniert, ist erlaubt? „Anything goes“ hat das einmal jemand genannt.

Carrier: Nein, nein. Wenn man sagt: Wissenschaft ist das, was Spaß macht, dann hat man schon den Spielplatz gewechselt. Wissenschaft, so wie wir sie verstehen, also von Galilei bis heute, ist zwar ein historisches Unternehmen, und da ist auch nichts in Stein gehauen. Aber sie besitzt so etwas wie eine Kontur. Und insofern geht da eben nicht alles.

Wie betrachten Sie die Rolle Ihres eigenen Faches: Hört die Öffentlichkeit den Philosophen ausreichend zu?

Carrier: Es gibt verschiedene Rollen, die Philosophen in der Gesellschaft spielen könnten. Eine davon ist die des öffentlichen Intellektuellen, also gewissermaßen die Habermas-Figur. Bei Debatten wie etwa jener um die Willensfreiheit hört die Öffentlichkeit sicher zu, das finde ich auch wichtig. Und dann gibt es noch die Fachphilosophie mit ihren weitgehend esoterischen Fragestellungen. Da hört die Öffentlichkeit nicht zu. Das ist aber kein Problem, denn das tut sie auch bei anderen Wissenschaften nicht.

Ihr Fach findet also genügend Aufmerksamkeit?

Carrier: Nein, natürlich nicht. Ich würde mir schon mehr Aufmerksamkeit wünschen. Auf der anderen Seite weiß ich, dass das eine universelle Klage ist. Das wünschen sich alle.

Es gab einmal die historische Forderung, die Philosophen mögen Könige werden. Was wohl auch keine Lösung wäre.

Carrier: Platons Vorstellung, dass die Herrscher besonderer Art sein müssen, ist natürlich veraltet. Die Philosophen schauen die ewigen Ideen und lassen sich vom Parteiengezänk nicht vereinnahmen - das ist keine tragfähige Idee. Wir haben eine andere Idee: Gewaltenteilung, die wechselseitige Kontrolle von politischer Macht. Das funktioniert doch viel besser. Viele neigen dazu, von Macht korrumpiert zu werden, da sind die Philosophen keine Ausnahme. Der Philosophenkönig ist eine Schnapsidee.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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