Einsamkeit – die neue Volkskrankheit

Eine tödliche Epidemie sei die Einsamkeit, krebserregend und schädlicher als 15 Zigaretten am Tag - das haben Mediziner herausgefunden. Doch was kann die Politik gegen die neue Volkskrankheit tun?

In den USA warnen Psychologen, dass Einsamkeit das Gesundheitssystem in Zukunft mehr belasten wird, als es derzeit das Übergewicht tut. Das Thema erfährt gerade viel mediale Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Großbritannien seit Beginn des Jahres mit Tracey Crouch eine Staatssekretärin hat, die neben Sport und Zivilgesellschaft nun auch für das Thema Einsamkeit zuständig ist.

Einsam oder nur allein?

Die Einsamkeit unterscheidet sich vom Alleinsein dadurch, dass man unter ihr leidet. Sie ist ein Zustand, den man sich nicht selbst ausgesucht hat. Vereinfacht gesagt: Man wünscht sich mehr soziale Bindungen, als man hat. In Großbritannien hat sich in den vergangenen Jahren eine Kommission mit dem Thema Einsamkeit beschäftigt.

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Dem Thema widmen sich auch die Dimensionen am 28.5. um 19:05 und ein Beitrag in Wissen aktuell um 13:55.

Das britische Rote Kreuz hat deren Agenden nun übernommen und eine beeindruckende Zahl veröffentlicht: Ganze neun Millionen Briten von insgesamt 66 Millionen fühlen sich einsam. Ob es heute mehr einsame Britinnen und Briten gibt als früher, lässt sich aber nicht sagen, weil Vergleichsdaten fehlen. In Zukunft möchte die britische Regierung solche Daten regelmäßig erheben und miteinander vergleichen, so Olivia Field vom britischen Roten Kreuz.

„Bisher wissen wir nur: Einsamkeit ist ein großes Problem bei uns in Großbritannien. In Zukunft werden wir mehr über dieses Problem und mögliche Lösungswege erfahren, denn erst jetzt hat die Regierung damit begonnen, einheitliche Befragungen durchzuführen.“

Ein Tabuthema

Der Soziologe Janosch Schobin von der Universität Kassel hat sich mit der Wechselwirkung von Einsamkeit und Gesellschaft beschäftigt. In Deutschland liegt die Zahl jener Menschen, die sich einsam fühlen, seit den 1990er Jahren ungefähr gleichbleibend bei fünf Prozent, meint er. Fazit: Ob sich heute wirklich mehr Menschen einsam fühlen als früher, das ist wissenschaftlich nicht oder zumindest noch nicht belegt.

Alter Mann auf der Straße

Christof Stache / AFP

Die Einsamkeit von Männern wurde lange unterschätzt

„Wir Wissenschaftler stellen Fragen wie: Wie oft fühlen Sie sich einsam, oder wie oft haben Sie sich in der letzten Woche einsam gefühlt? Das sind so klassische Survey-Fragen, die auch gesellschaftsvergleichend gestellt werden", sagt Schobin. "Uns ist aber klar, dass sehr kleine Veränderungen im Fragelaut, aber auch in der Fragetechnik zu unglaublich großen Ergebnisunterschieden führen können.“

Bei Online-Umfragen geben wesentlich mehr Menschen zu, einsam zu sein als in direkten Befragungen auf der Straße, meint Schobin. Der Grund: Einsamkeit ist, zumindest in den nordeuropäischen Ländern, ein soziales Stigma. Auch wenn man zugibt, einsam zu sein, kann man keine Hilfeleistung erwarten.

Der Hilferuf verhallt

„Wenn bei uns jemand einsam ist, wird ihm selbst die Schuld dafür gegeben, das ist wie ein Makel, der an einem haftet“, so Janosch Schobin. In anderen Regionen, etwa in Südamerika sei das ganz anders. Dort würden Einsamkeitsgefühle offen ausgesprochen und das werde auch belohnt, etwa mit einer Essenseinladung.

„Wenn ich dort sage, es geht mir schlecht, weil ich keine Nahbeziehungen habe, dann ist das für mein soziales Umfeld eine Aufforderung, mir zu helfen. Und die ist legitim. Weil man weiß, dafür gibt es soziale Unterstützung, weil die Leute das als ein gesellschaftliches Problem anerkennen, bei dem sie mitzuwirken haben. Und ich glaube, man kann im Norden Europas nicht erwarten, dass man so eine Unterstützung bekommt, wenn man einen Einsamkeitsapell ausspricht.“

Politik gegen Einsamkeit

Wie kann nun eine Politik gegen Einsamkeit aussehen? Für Janosch Schobin ist das Gesundheitssystem ein zentrales Element. „Wenn man eine Politik gegen Einsamkeit machen will, dann muss man zuerst einmal eine gute, universale Gesundheitspolitik machen. Das heißt, die Leute besonders lange gesund halten, denn das ist die wichtigste Voraussetzung, um an der Gesellschaft teilhaben zu können.“

Wer chronisch krank ist, wird schneller einsam. Auch das Umgekehrte gilt: Wer einsam ist, wird schneller krank. Denn Einsamkeitsgefühle verursachen Stress. Der wiederum begünstigt Herzkrankheiten und sogar Krebs. Wissenschaftler der Universität Utah in den USA haben bereits im Jahr 2010 herausgefunden, dass chronische Einsamkeit etwa so schädlich ist wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag, wie Übergewicht oder Bewegungsmangel.

Spaziergänger an einem Seeufer

dpa/A3216 Peter Kneffel

Einsamkeit schadet der Gesundheit

Manche politische Maßnahme kann die Einsamkeit des Einzelnen noch verstärken, meint Schobin. In Deutschland müssen Arbeitslose mitunter für Jobangebote quer durch das Land umziehen. Völlige Flexibilität wird von allen gefordert, die keine Familie zu betreuen haben.

„Das Furchtbare an so einer Politik ist, dass es besonders die Leute trifft, die sowieso schon benachteiligt sind. Also jene Menschen, die schon keine Familie haben, die werden dann noch genötigt, umzuziehen.“

Männer als Problemgruppe

Vor allem Männer tauchen in Befragungen kaum auf, weil sie aus Stolz nicht darüber sprechen möchten, meint Schobin. Das hat die Einsamkeitsforschung lange Zeit auf falsche Bahnen gelenkt. Hatte man bisher immer angenommen, es seien vor allem ältere, verwitwete Frauen von Einsamkeit betroffen, weiß man heute: Das Problem sind eigentlich die alleinstehenden älteren Männer. Nicht die Männer selbst, sondern Beerdigungsstatistiken weisen darauf hin.

Den entscheidenden Hinweis bekam Janosch Schobin von einem Pfarrer aus Stuttgart, der ihn eines Tages anrief und sich erkundigte, was denn die Meinung eines Soziologen sei zu den vielen Bestattungen, die er in letzter Zeit ohne Angehörige durchführen müsse. Die Beerdigungsstatistiken sprechen also etwas aus, über das die Lebenden nicht gern reden.

Kulturwandel nötig

Tatsächlich werden in Deutschland immer mehr Leute von Amtswegen bestattet. Das bedeutet, es gibt keine Angehörigen mehr, die sie bestatten wollen. Ein klassisches Beispiel dafür sind geschiedene Männer, deren Beziehung zu den Kindern zerrüttet ist und meist auch zur Ex-Partnerin. „Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass diese Art von Bestattungen extrem zugenommen hat in den Großstädten. Bei den Männern ist das tatsächlich ungefähr jeder zehnte, der in Großstädten vom Amt beerdigt wird“, so Schobin.

Janosch Schobin plädiert daher auch für einen Kulturwandel: Nachbarschaftshilfe, wie sie etwa in Südeuropa oder in Lateinamerika ausgeprägt ist, sollte auch bei uns wieder in Mode kommen. „Man muss wieder eine gewisse Verpflichtung auf das soziale Netz des anderen haben und den Erhalt des sozialen Netzes des anderen haben“, meint er. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass auch die Politik Akzente setzen könnte, um solche Netzwerke zu unterstützen.

Hanna Ronzheimer, Ö1-Wissenschaft

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