Die Revolution in Familienbildern

Nur 15 Jahre trennen Portugals Nelkenrevolution 1974 und die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei 1989. Die Kulturwissenschaftlerin Ana de Almeida hat unerwartete Verbindungen gefunden – in einer mit Fotos gespickten Schuhschachtel ihres Vaters.

Zuhause in Lissabon, in dem Haus, in dem ich mit meiner Schwester, Eltern und Großeltern aufwuchs, wurden alle Fotografien in einem verschließbaren Fach im großen Schrank des Elternschlafzimmers aufbewahrt. Im Gegensatz zu meinen Großeltern haben meine Eltern nie ein Familienalbum zusammengestellt. Die Fotos steckten entweder in den kleinen 10x15cm gebundenen Alben mit Plastikmappen, die von dem örtlichen Kodak-Filmentwicklungsladen zur Verfügung gestellt wurden, oder einfach in Papierumschlägen aus dem gleichen Geschäft.

Porträtfoto von Ana de Almeida

IFK

Über die Autorin

Ana de Almeida ist Doktorandin an der Akademie der bildenden Künste in Wien und derzeit Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz in Wien.

In diesem Schrankfach befand sich auch eine Schuhschachtel voller Fotografien, die von meinem Vater stammten, samt der entsprechenden Negative. Er hatte sie in den Jahren gemacht, als er in Prag studierte.

Schuhschachtel

Ich erinnere mich, von dem Inhalt dieser Schachtel gehört zu haben, bevor ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Wann ich zum ersten Mal von der Epoche zwischen 1978 und 1987 gehört habe, als mein Vater in der früheren Tschechoslowakei Elektrotechnik studiert hat, kann ich nicht sagen. Es gab keinen bestimmten Moment, durch den diese Neugier nach der Vergangenheit erregt wurde – während zufälliger Gespräche über Reisen oder das Studium etwa. Und dennoch war das Stipendium der portugiesischen Kommunistischen Partei, das neben anderen auch meinem Vater von 1978-87 zugesprochen wurde, die Vorbedingung für meine Existenz (als Tochter einer tschechischen Mutter in Prag geboren).

Die Geschichte einer plötzlichen Gelegenheit, einer Entscheidung, die schnell getroffen werden musste – Option eins: Moskau; Option zwei: DDR; Option drei: Tschechoslowakei – gibt es, so lange ich mich erinnern kann. Selbst wenn mir Einzelheiten der Geschichte und bestimmte Fakten entfallen sind, erfolgte ein detaillierter Bericht (wenn auch in Fragmenten) der Zeit in Prag, in Poděbrady, in der Slowakei und auf Reisen durch Europa erst viel später, und damit die Erwähnung einer Schachtel voller Fotografien. Und schließlich fand ich die Bilder selbst.

José Alberto, Prag 1983

José Alberto

José Alberto, Prag 1983

Eine Geschichte zweier Revolutionen

Wenn wir die Fotografien, die mein Vater zum Großteil selbst geschossen hat, betrachten, werden wir auf den ersten Blick mit einer beschränkten Anzahl von Szenarien konfrontiert, in denen sie entstanden sind. Es gibt drei wesentliche Schauplätze: Die Mehrheit der Bilder wurde in Prag zwischen 1978 und 1983 aufgenommen, vorwiegend auf dem Campus der Technischen Universität (ČVUT). Sie dokumentieren das akademische und politische Leben der Studenten, wie auch offizielle Feiern: etwa die Spartakiade, eine riesige gymnastische Parade, die die kommunistische Regierung alle fünf Jahre veranstaltete, um die Befreiung der Tschechoslowakei durch die Rote Armee zu feiern.

Der zweite Schwerpunkt der Fotos liegt auf politischen Massenkundgebungen während mehrerer Besuche in Portugal, offizielle Feiern am Tag der Arbeit und Veranstaltungen der portugiesischen Kommunistischen Partei; und der dritte auf einer Interrail-Reise im Jahr 1982. Die Bilder und ihre persönlichen, geschichtlichen, politischen etc. Kontexte verweisen jedoch weit hinter die abgebildeten Ereignisse wie auch weit in die Zukunft: auf ein interkontextuelles System, zumal dieses Archiv nicht nur eine Vielzahl von Ereignissen widergibt, sondern auch die Verhältnisse zwischen ihnen.

Obwohl revolutionären Ereignisse in den Fotos nicht direkt abgebildet sind, ist die bereits vergangene Nelkenrevolution in Portugal (April 1974) noch präsent und die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei (November 1989) bereits zu erahnen.

José Alberto, Lissabon 1980

José Alberto

José Alberto, Lissabon 1980

Widersprüchliche Revolutionen und persönliches Archiv

Vor einigen Jahren noch ließen sich beide revolutionäre Prozesse nicht in stabile und übereinstimmende historische Narrative bringen. Dennoch werden aus den jeweiligen Archiven dieser Revolutionen aktuelle politische Positionen und Diskurse in beiden Ländern permanent generiert. Wie funktionieren solche Archive? Können einzelne Momente individueller Bildherstellung beeinflussen, wie ein Archiv gestaltet wird? Kann eine Schuhschachtel mit Amateurfotos in ein Archiv verwandelt werden, in dem gelebte und überlieferte Erfahrung neben makropolitischen und historischen Prozessen zum Ausdruck kommen?

Veranstaltungshinweis

Am 11.6. hält Ana de Almeida den Vortrag: “The Revolution’s Archive Through Family Photographs and Artistic Discourses". Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Nur fünfzehn Jahre trennen diese beiden historischen Ereignisse, welche für die Schaffung einer westlichen und einer mitteleuropäischen Demokratie, wie wir sie heute kennen, von ausschlaggebender Bedeutung waren. Die Nelkenrevolution in Portugal und die Samtene Revolution in der früheren Tschechoslowakei konnten durch ihre Akteure den Verlauf örtlicher und globaler Geschichte beeinflussen und nationale Narrative neu schreiben, während sie gleichzeitig wichtige Rollen in viel größeren Prozessen, etwa dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der endgültigen Auflösung eines untergehenden Kolonialreiches, übernahmen.

Der radikal links-orientierte Ansatz vieler Reformen im Wirtschafts- und Sozialsystem, die sich während des portugiesischen Revolutionsprozesses zugetragen haben, scheinen wenig mit dem politischen und ökonomischen Systemwechsel zu tun zu haben, der zum Zusammenbruch des Ostblocks führte. Inwiefern sind diese historischen Narrative inkompatibel, wenn wir die eine Revolution aus der Perspektive der anderen betrachten? Kann das Archiv ein Ort sein, an dem wir beide Revolutionsprozesse miteinander in Beziehung setzen können?

José Alberto, Festa do Avante, Lissabon 1981

José Alberto

José Alberto, Festa do Avante, Lissabon 1981

Was ist ein Archiv und wie funktioniert es?

Laut dem Philosophen Jacques Derrida beinhaltet das griechische Wort Arkhē die beiden Prinzipien von Anfang und Gebot. Es enthält daher sowohl ein ontologisches Prinzip (das des Anfangs, des Ersten, Hauptsächlichen, Primitiven) als auch ein nomologisches (bezogen auf das Gesetz, seine Festlegung und Durchsetzung). Somit hat das Archiv zwei Funktionen: die eine, Dokumente aufzubewahren, und die andere, ein Ort zu sein, an dem Autorität und soziale Ordnung ausgeübt werden. Die Fotos sind Teil der externen und materiellen Aufbewahrung von Erinnerung, durch welche das Archiv sichtbar gemacht wird.

Die Schuhschachtel ist ein Paradigma der permanenten Verschiebung zwischen der Wahrnehmung des Archivs als System und des Mangels desselben – in den verschiedenen Momenten, in denen mein Vater sich dazu äußerte, und auch für mich, ehe sie zum Forschungsobjekt wurde. Vor der Öffnung des Archivs war die Schachtel nichts weiter als ein physischer Behälter für Dokumente der Zeit zwischen 1978 und 1987. Diese Bilder wurden nicht getrennt oder sortiert, weder nach Ort noch nach der Art der Ereignisse (persönlich oder politisch, historisch, etc.)

José Alberto, XII Jubileum der Nelken Revolution, Prag 1986

José Alberto

José Alberto, XII. Jubiläum der Nelkenrevolution, Prag 1986

Verschiedene Archive, verschiedene Narrative

Die idiosynkratische Art und Weise, Material für „archivwürdig“ zu befinden, bietet neue Möglichkeiten, Beziehungen zwischen beiden Revolutionen herzustellen und zur Rolle, die sie in unserer kollektiven Imagination und Erinnerung einnehmen. Die Schuhschachtel an sich, als Behälter und die Art, wie in ihr das Material (un-)organisiert wurde, bieten narrative und reflexive Lesearten. Die formelle Disposition des Archivs ermöglicht die Erforschung beider historischer Kontexte (post-Nelkenrevolution und prä-Samtener Revolution). Ebenso wesentlich wie die Art, in der die Bilder produziert wurden, ist die System, nach dem sie geordnet sind: Art und Systematik verweisen auf die enge Verwobenheit von persönlicher Erfahrung und Geschichte.

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