Tod, Tiere und Essen bei Canetti

„Eine Schöpfung, die auf Fraß gestellt ist – wie soll sie glücken?“, schrieb Elias Canetti. Wie unglücklich für den Schriftsteller Tod, Tiere und Essen zusammenhängen, beschreibt die Germanistin Nikolina Skenderija-Bohnet in einem Gastbeitrag.

Im Gesamtwerk von Elias Canetti ist das Thema der Todesfeindschaft ein durchgängiges Motiv. Die ersten Aufzeichnungen gegen den Tod schrieb Canetti im Jahr 1936 und sie dienten als eine Konzeptskizze für Canettis geplanten Roman Der Todesfeind, den er trotz mehrerer Anläufe nie vollendet hat.

Porträtfoto der Germanistin Nikolina Skenderija-Bohnet

IFK

Über die Autorin

Nikolina Skenderija-Bohnet absolvierte ihr Masterstudium in Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität Berlin. Seit Juli 2016 arbeitet sie an ihrem Promotionsprojekt mit dem Titel: Essen und Gegessen-Werden. Tod, Tiere und Essen im Werk von Elias Canetti. Derzeit ist sie Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz in Wien.

Stattdessen hinterließ Canetti nach seinem Tod ein voluminöses Dokument (in Form von Notizen, Aphorismen, Exzerpten und Geschichten) über seine eigene Kritik der Sterblichkeit, die durch das Wechselspiel der Trias von Tod, Tiere und Essen gekennzeichnet ist.

Widersprüchliche Kritik

Canettis Bemerkungen über den Tod sind einerseits irritierend, pathetisch, eitel und radikal, wie diese aus dem Jahr 1944: „Einmal will ich die Sätze finden, daß sich Gott vor mir schämt. Dann wird niemand mehr sterben.“ Anderseits unterstreichen viele Aufzeichnungen den stilistischen Glanz und die bemerkenswerte Aktualität des Autors.

Auf der theoretisch-philosophischen Ebene allerdings ist Canettis Todeskritik zutiefst widersprüchlich. Den Tod anzuerkennen, so wie es in vielen Kulturen und Religionen üblich und für das Leben in der Gegenwart sinnstiftend ist, kommt für Canetti nicht in Frage. Nach ihm soll man den Tod weder bejahen noch rechtfertigen, man darf ihn aber auch nicht vergessen. Im allgegenwärtigen Todesbewusstsein soll man ihm Widerstand leisten. Leichter gesagt, als getan!

Der Tod in Masse und Macht

Auch in seinem wissenschaftlich untypischen Großessay Masse und Macht (1960) führt Canetti jene Kategorie ein, um das Wesen der Macht auszudeuten: den Tod. Aber wie kann man das erklären? Wie und warum verbindet Canetti Tod und Macht?

1. Abkehr von Religion: Canettis Todeskritik wurzelt in der jüdischen Religion und dem ihr inhärenten Tötungsverbot. Da Gott allein die Verfügungsgewalt über Leben und Tod hat und mit dieser auch droht, besitzt er für Canetti die Essenz der Macht schlechthin. Deshalb formuliert Canetti den Dekalog neu: „Du sollst nicht sterben“, ohne dabei die Existenz Gottes völlig zu verneinen: „Ob Gott tot ist oder nicht: Es ist unmöglich, von ihm zu schweigen, der so lange da war.“ Somit entwickelt Canetti eine Art negativer Theologie, in der die Feindschaft mit dem Tod heilig wird. Das bedeutet eine Abkehr von jeglicher Religion, die für Canetti ein Arrangement mit dem Tod darstellte.

2. Der paradoxe Überlebende: Nach der Abkehr von Religion verknüpft Canetti seine Gedanken über die Todesdrohung mit der Figur des Überlebenden. In Masse und Macht bemerkt er: „Der erste Tote ist es, der alle mit dem Gefühl der Bedrohtheit ansteckt.“ Die Bedrohten sind die Überlebenden, die in ständiger Angst existieren, getötet zu werden oder töten zu müssen. Wenn man überleben will, muss man töten, so konstatiert Canetti: „Der Augenblick des Überlebens, ist der Augenblick der Macht.“ Damit wird der Überlebende zur Figur der Macht, die doppelsinnig ist, wie Canetti auch selbst bemerkt: „Es ist unmöglich, sich vom Leben abzuwenden, dessen Wert und Erwartung man immer fühlt. Aber es ist auch unmöglich, nicht vom Tode der anderen Geschöpfe zu leben, deren Wert und Erwartung nicht geringer sind als die unsren.“

Elias Canetti erhält vom schwedischen König Carl Gustaf am 10. Dezember 1981 den Nobelpreis für Literatur

AP

Elias Canetti erhält vom schwedischen König Carl Gustaf am 10. Dezember 1981 den Nobelpreis für Literatur

Schonung der Tiere

Seine Kritik der Sterblichkeit erstreckt Canetti auch auf Tiere. Er weist die Sonderstellung der Menschen gegenüber den Tieren empört zurück und begreift die Tiere, ähnlich wie Pythagoras oder Plutarch, als Protagonisten unserer Kultur. In Canettis Werk erscheinen sie als von Menschen missbrauchte Geschöpfe, die sich gegen ihre Machthaber (Jäger, Hirten oder Schlächter) nicht wehren können.

Dabei hat sich Canetti nie für ein besseres Tierschutzgesetz engagiert. Ein Vegetarier war er auch nicht. Vielmehr kritisierte er die Versuche des modernen Menschen, das Schicksal der Tiere juristisch zu beeinflussen. Dagegen bewahrt er die Tiere in seinem Werk: Seinen Protagonisten verleiht er oft Tiercharakteristika und plädiert für die alte, verwandlungsreiche Verbindung von Mensch und Tier, die er vor allem in den außereuropäischen Entstehungsmythen wiederfindet.

Verzicht auf Essen

Canettis Todeskritik zielt auch auf die elementaren Essenspraktiken. Das Essen als Bedingung für den Lebenserhalt handelt immer vom Tod der anderen. So findet Canetti in diesem Vorgang das Fundament der Macht und behauptet: „Ein Mensch, der nicht essen müßte und doch gedeiht, der sich geistig und gefühlsmäßig wie ein Mensch benimmt, obwohl er nie ißt - das wäre das höchste moralische Experiment, das denkbar ist; und nur wenn es glücklich gelöst wäre, könnte man ernsthaft an die Überwindung des Todes denken.“

Moralisches oder biochemisches Experiment? Statt mit einer Antwort beschenkt Canetti die Leser mit seinem Pessimismus, denn eines steht fest: Wenn wir weiter überleben wollen, müssen wir essen. Mit dem Wunsch, das Essen abzuschaffen, gerät Canetti in gnostische Verstrickungen, mit Konsequenz einer Art negativen Utopie.

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