Seattle: Innovations-Hotspot oder Alptraum?

Seattle gilt seit einigen Jahren als Hotspot der Technologieszene. Amazon, Boeing und Microsoft haben hier ihren Standort. Die boomende Stadt ist zu Gast in Alpbach. Von dort tätigen österreichischen Forschern wird sie differenziert beschrieben.

Keine Frage: Die Zahlen sind beeindruckend. Rund die Hälfte der Bevölkerung Seattles verfügt mindestens über einen Bachelor-Abschluss, im Bundesstaat Washington ist die Konzentration der im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) tätigen Personen US-weit am höchsten. Dazu gehört Seattle laut „Forbes“ zu den 15 „erfindungsstärksten“ Städten der Welt: Auf 10.000 Einwohner kamen 2017 demnach 4,25 Patente. Und 2016 lag Washington in der ohnehin boomenden US-Wirtschaft beim Wirtschaftswachstum an der Spitze aller Bundesstaaten.

Blick auf Seattle

AFP PHOTO/Mark RALSTON

Die Wurzeln dieser Entwicklung werden vielfach dem sogenannten „Boeing Bust“ Anfang der 1970er-Jahre zugeschrieben. Damals strich der Flugzeug-Hersteller innerhalb weniger Monate mehr als die Hälfte seiner rund 80.000 Arbeitsplätze. Anschließend setzte man in der Region auf Diversifizierung, die die gut ausgebildeten Arbeitskräfte in der Region halten sollte. Die University of Washington lieferte dazu die passenden Talente, es folgten Firmen wie Microsoft und Amazon. Mittlerweile mehren sich aber kritische Stimmen - etwa gegen den Einfluss Amazons auf die Stadtpolitik, rapide steigende Immobilienpreise sowie die damit verbundene Gentrifizierung und Obdachlosigkeit.

Offene Gesellschaft und viel Natur

Für den Biochemiker Gustav Oberdorfer (Universität Graz) ist die Einordnung Seattles als Innovations-Zentrum „absolut gerechtfertigt“. Oberdorfer war als Postdoc von 2012 bis 2017 im Rahmen eines Forschungsprojekts an der University of Washington tätig und wurde jüngst mit einem hochdotierten „Starting Grant“ des europäischen Forschungsrats ausgezeichnet. „Als Hotspot für Start-ups im IT-Bereich ist es sicher mit dem Silicon Valley vergleichbar“, sagt der Forscher zur APA. „Das hat natürlich mit Amazon zu tun. Außerdem hat Google dort den zweitgrößten Standort, Microsoft ist praktisch um die Ecke in Redmond. 90 Prozent der Leute, die ich drüben kennengelernt habe, waren im IT-Bereich tätig.“

Technologiegespräche Alpbach

Von 23. bis 25. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1-Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet „Diversität und Resilienz“.

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Neben den großen Firmen macht Oberdorfer aber auch einen anderen Faktor für die Innovationskraft Seattles aus: „Dort gibt es sicher die offenste Gesellschaft, in der ich jemals gelebt habe - es ist ein bunt gemischtes Potpourri an verschiedensten Personen, auch definitiv viele Althippies, die eigene Stadtviertel besiedeln. Das trägt dazu bei, dass die Stadt junge Menschen, die kreativ und frei arbeiten wollen, anzieht. Die Gesellschaft ist viel weniger konservativ als in Österreich. Vor allem junge Frauen kommen her, weil man eben nicht von ihnen erwartet, irgendwann Hausfrauen zu werden.“ Dazu komme noch „die unglaublich schöne Gegend“: „Im pazifischen Nordwesten gibt es sehr viel wilde Natur - dementsprechend sieht man oft eine wilde Mischung aus Outdoor-Bekleidung statt Business-Anzügen in der Stadt.“ Als Schattenseite des Booms sieht Oberdorfer die deutlich gestiegenen Wohnungspreise: „Die Mieten explodieren: Wir haben 2012 für 50 Quadratmeter 1.580 Dollar (1.365 Euro, Anm.) pro Monat bezahlt - mittlerweile kostet es das Doppelte. Die Gentrifizierung schreitet in Seattle viel rascher voran, das betrifft alle Teile der Innenstadt.“

Hohe Lebensqualität

Auch Andreas Pedroß-Engel sieht Seattle zwiespältig: Die Lebensqualität sei zwar im US-Vergleich recht hoch, aber „deutlich niedriger als in Österreich“. Der Absolvent der Technischen Universität Graz forscht seit November 2014 an der University of Washington vor allem zum Thema Millimeter-Wellen Imaging, also dem Erzeugen von hoch-auflösenden dreidimensionalen Bilder von Objekten, selbst wenn diese durch (optisch) undurchsichtige Hindernisse wie Karton, Kunststoff oder ganzen Wände verdeckt sind. 2017 gründete er gemeinsam mit Kollegen die Firma ThruWave, die als Anwendung dieser Technologie etwa in Logistik und eCommerce sicherstellen soll, dass sich z.B. in einem Paket oder im Lager tatsächlich die richtige Anzahl von potenziell durchmischten Artikeln befindet.

Seattle besitze eine relative große und aktive Gründerszene die sich in den vielen Startup-Inkubatoren clustert. Die Nähe zu High-Tech-Unternehmen wie Amazon, Microsoft, T-Mobile US, Fluke, Boeing, SpaceX oder Blue Origin sei dabei sicher hilfreich. Viele Start-up-Gründer und -Mitarbeiter waren früher bei den Softwaregiganten beschäftigt und wollten die Konzernkultur hinter sich lassen. Dazu käme die University of Washington als eine der führenden Forschungs-Universitäten in der Welt.

Essen und Wohnen teuer

Ähnlich wie Oberdorfer macht er auch das gesellschaftliche Umfeld als wichtigen Faktor für die Anziehungskraft Seattles aus: Politisch gesehen sei die Stadt sehr progressiv und liberal. Soziale Themen wie die Immigrationspolitik der aktuellen US-Regierung, Black-Lives Matter, #MeToo, Obdachlosigkeit etc. würden den öffentlichen Diskurs dominieren, die Bevölkerung sei ethnisch gemischt.

Als eine der am schnellsten wachsenden Großstädte sei Seattle aber mit zahlreichen Problemen konfrontiert: Die Stadt sei mit der Zunahme des Personalverkehrs überfordert, der Ausbau der Stadtbahn schreite nur langsam voran. Dazu kämen die hohen Lebenshaltungskosten mit im Vergleich zu Österreich doppelt so hohen Preisen für Produkte wie Milch sowie rasant anwachsenden Immobilienpreisen - allein im Vergleich zum Vorjahr gab es ein Plus von zwölf Prozent. Im County, zu dem Seattle gehört, seien über 12.500 Menschen obdachlos - die drittgrößte Quote nach New York und L.A.

Verschiedenste Förderquellen

Für die Finanzierung der Forschung sind sowohl private als auch öffentliche Fördergeber wichtig. Für Pedroß-Engel spielt regionale universitäre Forschungsförderung in seinem eigenen Forschungsschwerpunkt zwar nur eine untergeordnete Rolle. Es gebe aber mit dem Joint Center for Aerospace Technology Innovation ein vom Bundesstaat Washington gefördertes Programm für die Unterstützung von Forschung in Themen der Luftfahrtindustrie. Hauptquellen für Forschungsförderung seien aber neben der National Science Foundation vor allem diverse Bundesbehörden der US-Ministerien für Energie, Verteidigung und Heimatschutz. Zusätzlich gebe es auch diverse Forschungsprojekte im Auftrag der Industrie.

Für Start-ups gebe es neben einem Zentrum für Wissens- und Technologietransfer an der University of Washington ebenfalls öffentliche Förderungen. Die wichtigste davon sind laut Pedroß-Engel die Small Business Innovation Research (SBIR) Awards, welche von diversen Bundesbehörden wie der National Science Foundation, dem National Institute of Health, der Defense Advanced Research Projects Agency oder der NASA nach einem strengen kompetitiven Auswahlverfahren verliehen werden. In der Frühphase funktioniere die Finanzierung von Start-ups dagegen primär durch Angel-Investors, danach durch Venture Capital.

„Es gibt unzählige Venture Capital-Firmen, die einmal pro Woche Pitching days haben“, erläuterte auch Oberdorfer. „Da kommen Leute mit Geld und Leute mit Ideen zusammen.“ Im universitären Bereich gebe es dazu noch „enorm viel Philanthropie“. Allein sein ehemaliges Labor habe in den vergangenen Jahren mehrere zehn Millionen Euro von Amazon, Google oder der Gates Foundation erhalten. Dazu kämen noch Familien, die regelmäßig Gebäude sponsern.

science.ORF.at/APA

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