„Von freier Migration profitieren alle“

Mit harter Anti-Migrationspolitik gewinnt man in Europa zurzeit Wahlen. Ein Schweizer Jurist macht nun einen radikalen Gegenvorschlag: Nicht Staaten, sondern Individuen sollten das Recht haben über Migration zu entscheiden – davon könnten alle profitieren.

„Die Welt wäre insgesamt sehr viel wohlhabender, wenn Menschen frei migrieren könnten“, sagt der Rechtswissenschaftler Stefan Schlegel vom deutschen Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Global betrachtet käme es dadurch zu einer Umverteilung von oben nach unten – auch wenn besonders die schlechter Qualifizierten in den Zielländern der Migration zu den Verlierern zählen könnten. Aber die Gewinner würden mehr gewinnen, als die Verlierer verlieren. Diese Überlegungen stellte Schlegel am Rande des Europäischen Forums Alpbach an.

Weniger Armut bedeutet nicht weniger Auswanderung

Wirtschaftlich betrachtet werden Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien in Migrationsfragen immer wichtiger. „Die Schwellenländer werden sich den Zugang der reichen Länder zu ihren Märkten bezahlen lassen“, meint Schlegel gegenüber science.ORF.at. Und zwar mit Zugang zum Arbeitsmarkt für ihre Staatsangehörigen. „In der Politik wird oft davon ausgegangen, dass weniger Menschen aus einem Land auswandern, wenn es weniger arm ist. Das stimmt aber so nicht.“

Porträtfoto von Stefan Schlegel

Katharina Gruber, ORF

Stefan Schlegel in Alpbach

Das zeigt schon ein Blick auf die innereuropäische Migration, so sind bekanntlich die Deutschen die größte Migrantengruppe in Österreich. Rechtlich ist das durch die EU-Freizügigkeit möglich. Und ähnliche rechtliche Möglichkeiten könnten sich in Zukunft immer mehr Staaten schaffen, so Schlegel. „Es hängt immer davon ab, wie groß der politische und ökonomische Hebel der Länder ist.“

Schweiz in der Zwickmühle

So habe beispielsweise die EU für ihre Bürger den Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt in den 1990er-Jahren erkämpft, sagt der Jurist: „Die Schweiz hatte damals ein schwaches Wachstum und brauchte den Zugang zum europäischen Markt. Und die EU hat von Anfang an klar gemacht: Binnenmarktzugang gibt es nur gegen Personenfreizügigkeit. Das ist nach wie vor aneinander gebunden.“

2014 stimmten die Schweizer in einer Volksabstimmung für ein Ende der Personenfreizügigkeit und die Schweiz ist per Verfassung verpflichtet, diese Entscheidung umzusetzen. „Wenn die Schweiz jetzt über 500 Millionen EU-Bürgern das Recht nehmen würde, in die Schweiz zu migrieren, dann würde sie im Gegenzug den Zugang zum Binnenmarkt verlieren und das ist ein Preis, der so hoch ist, dass sie sich bis jetzt nicht getraut hat, ihnen dieses Recht wieder zu nehmen. Spannend wird, ob Großbritannien im Zuge des Brexits in dieselbe Zwickmühle gerät.“

Wenn der attraktive Markt den Hebel ansetzt

Wachsen Schwellenländer und europäische Staaten wirtschaftlich enger zusammen und fallen Handelsschranken, dann werden Formen einer Personenfreizügigkeit über europäische Grenzen hinaus immer stärker Thema sein. „Ansprüche auf Zuwanderung werden immer schwieriger zu verhindern sein, denn man muss die Verhinderung mit entgangenem Marktzugang bezahlen.“

Dieses Szenario zeichnet sich schon bei Freihandelsabkommen zwischen Europa und asiatischen Ländern ab: Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien verlaufen seit 2007 schleppend, unter anderem deswegen, weil Indien den Zugang seiner Bürger zum europäischen Dienstleistungsmarkt möchte.

Auch in seinem Heimatland kann Schlegel diese Dynamik beobachten: „Die Schweiz musste in ihrem Freihandelsabkommen mit China Zugeständnisse machen und eine sehr spezifische Sparte von Dienstleistungserbringern zulassen, die ein Recht haben, in die Schweiz zu migrieren. Sollte das einmal ein Politikum werden, dann gibt es rechtlich keine Möglichkeit mehr, diese Leute abzuwehren. Diese Kontrollmacht ist im Austausch mit Marktzugang abgegeben worden.“

Was ein Recht zu migrieren bringen würde

„Das Recht über Migration müsste nicht natürlicherweise den Zielstaaten zugeordnet sein. Es könnte auch so geregelt sein, dass die Menschen selber darüber entscheiden dürften. Das heißt es gäbe ein Recht, migrieren zu dürfen - so, wie wir es jetzt innerhalb von Europa haben. Wollen wir den globalen Wohlstand maximieren, wäre es sinnvoller, dieses Recht den Individuen zu überlassen“, erklärt Schlegel: Schätzungen zufolge wäre die Welt reicher, wenn Migration frei stattfinden würde.

„Es sind schwierige Schätzungen, mit unterschiedlichen Ergebnissen, aber es besteht weitgehend ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die Welt sehr viel reicher wäre, wenn Menschen frei migrieren könnten.“ Dieser Reichtumsgewinn durch die Liberalisierung von Arbeit wäre auch wesentlich höher als die positiven Effekte, die man sich durch die vollständige Liberalisierung des Verkehrs von Gütern, Kapital und Dienstleistungen erwartet, so Schlegel.

Würde das Entscheidungsrecht über Migration nicht bei den Zielstaaten, sondern bei den Menschen liegen, könnte netto eine bessere Situation erzielt werden. „Migration zu verhindern heißt, Leute aus Märkten auszuschließen und ihnen damit einen Schaden aufzubürden. Ich würde sogar noch weiter gehen: Die Verhinderung von Migration ist die aktive Förderung von Armut, mit allen negativen Konsequenzen von Armut. Und ein Teil davon fällt uns in Europa wieder auf die Füße.“ Denn je reicher Schwellenländer werden, desto eher können sie europäische Staaten zwingen, einen Teil des Schadens zu übernehmen – unter anderem eben durch verweigerten Marktzugang.

„Menschen werden immer migrieren“

„In Gesprächen mit Politikern habe ich festgestellt, dass viele denken, Migration sei eine vorübergehende Störung der natürlichen Ordnung. Sie wollen diese ‚Störung‘ in den Griff bekommen. Aber Menschen sind immer schon migriert und sie werden immer migrieren“, sagt der Jurist. In einer Welt, die sich weiter globalisiert, werde dieses Phänomen nicht abnehmen: „Die Stimmen, die sagen, wir sind ausgeschlossen von globalen Arbeits- und Dienstleistungsmärkten, wird man immer weniger ignorieren können. Die Idee, dass Migration ein Problem oder der Ausdruck eines Problems ist, und nicht eine legitime Form, sich selbst zu verwirklichen oder das eigene Leben zu verbessern, ist aber sehr tief verinnerlicht.“

Daraus entstehe die Erwartungshaltung, dass Migration irgendwann wieder aufhört, wenn das vermeintliche Problem gelöst ist. „Aber das wird wohl nicht passieren. Und deshalb sollten wir uns von der Idee verabschieden, denn sie richtet großen Schaden an.“ Migrationspolitik sei in ihrer heutigen Form Prohibitionspolitik mit allen Effekten, die Prohibitionspolitik mit sich bringt: einen hohen menschlicher Preis und die Subvention von organisiertem Verbrechen, sagt der Jurist: „Am meisten leiden jene darunter, die man vorgibt zu schützen.“

Ähnlich wie in den Debatten um Prostitution oder Drogen in den letzten Jahrzehnten, so Schlegel, wünsche er sich Umschwünge in der Migrationsdebatte, die den Sinn von Prohibition als Ganzes infrage stellen.

Katharina Gruber aus Alpbach, Ö1-Wissenschaft

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