Rekord: Gelähmter geht 100 Meter

Es ist zwar kein biblisches Wunder, aber ein Rekord: Ein Querschnittgelähmter in den USA kann dank einer speziellen Therapie wieder 100 Meter gehen. Sie funktioniert aber nur, wenn die Nervenbahnen nicht komplett durchtrennt sind.

Der heute 29-jährige Patient ist seit fünf Jahren gelähmt. Bei einem Unfall mit einem Motorschlitten erlitt er schwere Rückenmarksverletzungen. Seitdem konnte er seine Beine nicht mehr bewegen. Seit 2016 wird er von einem Forscherteam der Mayo Clinic in Rochester im US-Bundesstaat Minnesota betreut und behandelt. Während der Rehabilitation stellte sich heraus, dass sein Rückenmark nicht komplett durchtrennt wurde.

Das ist bei einem Teil aller Querschnittgelähmten der Fall. Die verbleibenden Verbindungen reichen in der Regel aber nicht aus, um willkürliche Bewegungen auszuführen. Für diese Gruppe arbeitet man seit Jahren an einem neuen therapeutischen Ansatz. Dabei werden die wenigen Nervenleitungen elektronisch stimuliert. In der Kombination mit gezieltem Training können Betroffene wieder lernen zu stehen oder gelähmte Körperteile wieder bewegen.

Intensives Training

Zu diesem Zweck wurden nun auch dem jungen Mann in der Mayo Klinik ein Neurostimulator mit 16 Kontaktelektroden implantiert. Das neu entwickelte Modell arbeitet mit unterschiedlichen Stimulationsmustern für die verschiedenen Phasen eines Schritts. Nach dem Eingriff absolvierte der Gelähmte 43 Wochen lang ein intensives Trainingsprogramm, mit 113 Einheiten in der Klinik und weiteren 72 zuhause. Am Ende schaffte er es, bis zu 331 Schritte und bis zu 102 Meter in einem Stück laufen – allerdings mit Hilfe eines Rollators sowie mit Unterstützung durch Therapeuten, wie die Forscher nun in „Nature Medicine“ berichten.

Video: Der US-Patient beim Training

Anfangs hatten sogar drei Therapeutinnen und Therapeuten assistiert, um bei einem Schritt das Standbein stabil zu halten, um den Schwung des Schrittbeines zu unterstützen und um die Hüfte zu halten und so die Gewichtsverlagerung und die Balance zu unterstützen. Beim Rekordmarsch von 100 Metern erreichte der Patient eine Höchstgeschwindigkeit von 0,2 Metern pro Sekunde. Das ist weniger als die Hälfte der Geschwindigkeit von alltäglichem Gehen, die bei 0,5 Metern pro Sekunde beginnt.

Generell sei nicht davon auszugehen, „dass der Proband die wiedererlangte Gehfunktion in relevantem Umfang in den Alltag übertragen wird“, vermutet der nicht an der Forschung beteiligte Mediziner Norbert Weidner vom Querschnittzentrum des Universitätsklinikums Heidelberg. „Und sehr wahrscheinlich wird nur bei einer relativ geringen Teilmenge von Querschnittgelähmten ein derartiger Behandlungserfolg zu erzielen sein.“ Man könne auch nicht von Heilung sprechen. „Es wird lediglich die motorische Funktion in eingeschränktem Umfang wieder angekurbelt, die Rückmeldung über die Stellung der Beine im Raum fehlt dabei komplett“, so Weidner.

Weitere Erfolge

Dennoch arbeiten weltweit viele andere Forschergruppen derzeit an der Elektrostimulation. So ist am Montag im „New England Journal of Medicine“ zeitgleich eine Studie von Forschern um Susan Harkema von der University of Louisville erschienen. Sie berichten von vier querschnittgelähmten Patienten, die ebenfalls so behandelt worden waren.

Zwei von ihnen konnten nach intensivem Training wieder einige Schritte gehen, alle vier konnten zumindest selbstständig stehen. Neben der elektrischen Stimulation und dem Training war der Wille der Patienten für das Gehvermögen entscheidend: Sie mussten sich fest vornehmen zu gehen - sobald sie die mentale Absicht einstellten, konnten sie ihre Beine nicht mehr bewegen, berichten die Wissenschaftler.

Vor allem für nicht vollständig Gelähmte, die unterhalb der verletzten Stelle am Rückenmark zumindest noch Bewegungen ausführen können, sei die kombinierte Therapie ein vielversprechender Ansatz, meint Norbert Weidner. Denn wenn mehr Nervenbahnen erhalten sind, könne man diese auch leichter stimulieren. Eine echte Hilfe für komplett Gelähmte sieht der Experte nur in regenerativen Therapieansätzen - bei denen tatsächlich neue Nervenbahnen entstehen sollen. Noch gibt es diese Behandlungen aber nicht.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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