Was das Fotoalbum verschweigt

Private Fotoalben zeigen nicht die Realität – diese Kluft erforscht derzeit eine Ausstellung im Volkskundemuseum Wien. Eine These: Die Bildersammlung ist eine Art Blick in die Zukunft. So möchte man sich später an etwas erinnern.

Ausstellen, Sammeln und Erforschen, all das passiert derzeit im Volkskundemuseum Wien im Rahmen von „Alle antreten! Es wird geknipst!“ Es geht um die Jahre 1930 bis 1950 in Österreich. Eine politisch höchst turbulente Zeit: Da gab es die Februarkämpfe 1934, den Austrofaschismus, den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg mit all seinen Folgen und auch die anschließende Besatzungszeit. In privaten Fotoalben findet sich von alldem allerdings erstaunlich wenig wieder, erklärt der Fotohistoriker und Kurator Friedrich Tietjen.

Tausende Bilder analysiert

Rund 20.000 Fotos hat das Volkskundemuseum Wien aus privaten Fotoalben, aber auch aus Flohmarktankäufen zusammengetragen. Sie erzählen von Urlauben, Geburtstagen und Kleinkindern – und sie sind, wenn man ihren zeitgeschichtlichen Kontext miteinbezieht, fast beunruhigend harmonisch.

Österreich, um 1940 aufgenommene Fotografie aus einem ca. 1955 angelegten Album

Volkskundemuseum, anonyme Fotografinnen

Um 1940 aufgenommene Fotografie aus einem ca. 1955 angelegten Album

Der Fotohistoriker Friedrich Tietjen verdeutlicht das am Beispiel der Fotoalben von Ferry S., der mit seiner Frau in Wien lebte: „In diesem Album geht es immer nur um das Gleiche, nämlich ums Wandern, manchmal ums Kind, und da ist dann Frühjahr 1945 und man sieht das Paar glücklich im Prater spazieren. Oder im Mai 1945 ist das Paar mit dem Kind glücklich in Bregenz. Solche Alben, diese Zusammenstellung mit diesen Zeitangaben, das ist für uns einfach irritierend."

Zwischengeschichte

Das Album wurde auf dem Flohmarkt gekauft. Die Informationen über Ferry S. bleiben daher spärlich. Für die Einordnung und Analyse der Bilder sind, wenn möglich, Interviews mit den Besitzerinnen oder Nachfahren wichtig. Für das Ausstellungs-und Forschungsprojekt „Alle antreten!“ führten die Kuratoren und Mitarbeiter über 30 Interviews.

Album(seite) aus einem Flohmarktkonvolut. Ausflug in den Prater. Mai 1945.

Volkskundemuseum, anonyme Fotografen

Album(seite) aus einem Flohmarktkonvolut, Ausflug in den Prater, Mai 1945

Auch wenn die Aufnahmen ein ganz anderes Bild vermitteln, als Geschichts- und Politikwissenschaft über diese Zeit erzählen, sind sie wissenschaftlich wertvoll, so Friedrich Tietjen. Sie zeigen etwas, das parallel zu den Ereignissen stattgefunden hat, die wir aus den Geschichtsbüchern kennen. „Während die Transporte nach Auschwitz stattgefunden haben, haben andere Leute einen Sommerurlaub gemacht."

Blick in die Zukunft

Die Motivation zu fotografieren und ein Fotoalbum anzulegen, besteht in einem Blick auf die Zukunft, so die These von Herbert Justnik und Friedrich Tietjen. Mit der Fotografie werden private Biografien erzählt. „Es ist ein Entwurf dessen, was man später einmal überliefert haben möchte“, so Herbert Justnik.

Seite eines Albums mit Bildern aus den 1930er und 1940er Jahren. Angelegt wurde das Album vermutlich in den 1950er Jahren von einer unbekannten Wienerin

Archiv Tietjen

Album mit Bildern aus den 1930er und 1940er Jahren. Angelegt wurde das Album vermutlich in den 1950er Jahren von einer unbekannten Wienerin.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 9.10. um 13.55 Uhr.

Ob diese und viele weitere Vermutungen über private Fotografien zutreffen, möchte die Ausstellung in den kommenden fünf Monaten klären. Gleichzeitig mit dem kuratorischen Aufbereiten der Bilder soll nämlich auch geforscht werden. An eigenen Arbeitsplätzen können Wissenschaftler mit Fotoscans zu verschiedenen Fragestellungen arbeiten. „Es ist ja nicht so, dass das private Leben völlig abgekoppelt vom politischen Geschehen war, sondern dass die Erzählungen versuchen, privat das gute Leben darzustellen“, erklärt Herbert Justnik.

Motive bleiben gleich

Einige Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten tun sich auf, wenn man die Fotografie von damals mit der heutigen vergleicht. 1930 gab es noch keine Selfie-Kultur. Fotografie ist heute auch eine Art Live-Übertragungsmedium geworden – ein Foto wird, gemacht, gleich an Rezipienten verschickt.

Seite eines Albums von 1949, das die Reisen und Ballbesuche eines unbekannten Paares dokumentiert

Archiv Tietjen

Seite eines Albums von 1949, das die Reisen und Ballbesuche eines unbekannten Paares dokumentiert

Doch die Art und Weise, wie wir fotografieren, und die Motive bleiben gleich: im Urlaub, mit Freunden, mit Kindern. Mit unseren Fotos verorten wir uns als Individuen in der Welt. „Das tun wir heute sehr ähnlich wie damals“, so Friedrich Tietjen. Ausdrücklich erwünscht sind Besucherinnen, die eigene Fotoalben mitbringen und diese möglicherweise auch eingescannt der Ausstellung beisteuern möchten.

Hanna Ronzheimer, Ö1-Wissenschaft

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