Wie sexistisch ist die Physik?

In der Teilchenphysik arbeiten Forscherinnen und Forscher in tausendköpfigen Teams. Doch hinter der weltoffenen Kulisse regieren noch immer Vorurteile, sagt die kanadische Physikerin Pauline Gagnon: Sie attestiert der Physik ein Sexismusproblem.

science.ORF.at: Frau Gagnon, der italienische Teilchenphysiker Alessandro Strumia hat letzte Woche behauptet, Physikerinnen würden ihre Jobs aus politischen und nicht aus fachlichen Gründen erhalten. Daraufhin wurde er vom CERN suspendiert. Ihr Kommentar dazu?

Zur Person

Pauline Gagnon war bis 2016 als Forscherin in der Teilchenphysik tätig - unter anderem als Mitglied der ATLAS-Kollaboration des CERN. Am 5. Oktober hielt sie auf Einladung des AcademiaNet-Club an der Universität Wien einen Vortrag: „The tragic destiny of Mileva Maric Einstein“.

Gagnons Buch „Who cares about Particle Physics?“ wird in den nächsten Monaten in deutscher Übersetzung erscheinen.

Pauline Gagnon: Das Ganze ist im Rahmen eines Workshops zum Thema „High Energy Theory and Gender“ passiert - übrigens der erste dieser Art am CERN. Strumia meldete sich am Ende des Workshops zu Wort und versuchte nachzuweisen, dass Frauen weniger für Physik geeignet seien als Männer. Er ist ein großartiger theoretischer Physiker, aber mit dieser Rede hat er sich zum Idioten gemacht: Er hat nachgewiesen, dass er von Sozialwissenschaften gar nichts versteht. Und er hat auch eine Frau angegriffen, die am CERN eine Managerposition erhielt - eine Position, für die sich auch er beworben hat. Er sagte, er sei viel kompetenter für diesen Job, weil seine Arbeiten öfter zitiert wurden als ihre. Das ist verrückt, als wären die Zitate das einzige Maß für den Wert einer Arbeit.

Haben Sie während Ihrer Zeit am CERN Diskriminierungen erlebt?

Pauline Gagnon: Ich hatte unzählige schlechte Erfahrungen - und könnte Ihnen die Narben auf meinem Kopf zeigen, weil ich so oft an die gläserne Decke gestoßen bin. Ich habe mir oft die Frage gestellt: Was habe ich falsch gemacht? Warum werde ich nicht befördert und meine männlichen Kollegen schon? Bis mir klar wurde: Da ist eine gläserne Decke. Das hat nichts mit der Qualität meiner Forschung zu tun. Wir haben derzeit einen Frauenanteil von 19,5 Prozent am CERN - eine Studie des American Institute of Physics an mehr als 15.000 Physikern und Physikerinnen zeigt aber: Frauen werden in unserem Fach immer noch unfair behandelt. Sie verdienen weniger, ihre Labore sind schlechter ausgestattet und sie haben weniger Mitarbeiter in ihren Forschungsgruppen. Das Gute ist: Es gibt weltweit sehr viele - Männer wie Frauen -, die das ändern wollen und sich dazu auch öffentlich bekannt haben. Ich hoffe, das wird das #MeToo der Physik.

Pauline Gagnon

ORF / Czepel

Pauline Gagnon an der Universität Wien

Wie sachlich können solche Debatten geführt werden? Sind Genderthemen nicht auch ein Minenfeld politischer Korrektheit?

Pauline Gagnon: So könnte man es wahrnehmen. Es gibt eben nach wie vor zu wenig Bewusstsein für solche Themen. Mit welchen Schwierigkeiten sind dunkelhäutige Physiker konfrontiert? Oder Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender? Wenn man der Mehrheit angehört, dann ist alles in Ordnung - und dann ist es nicht einfach, solche Probleme überhaupt zu erkennen. Ich selbst gehöre als Frankokanadierin, Frau, Feministin und Lesbe gleich mehreren Minderheiten an und hatte es wirklich nicht einfach, das kann ich ihnen sagen. Ich wurde von allen Seiten runtergemacht. Wenn man solche Themen öfter und im großen Rahmen besprechen würde, wäre das auch kein Minenfeld mehr. Was wir brauchen, ist ein freundliche und offene Debatte.

Ein positives Signal kommt dieser Tage aus Stockholm: In den Fächern Physik und Chemie wurden nun seit langer Zeit wieder Frauen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Pauline Gagnon: Es ist 55 Jahre her, seit mit Maria Gertrude Goeppert-Mayer eine Frau den Physiknobelpreis erhalten hat. Und davor gab es nur eine Physik-Nobelpreisträgerin, Marie Curie. Das ist eine Schande, denn es gab so viele Frauen, die den Preis verdient gehabt hätten. Lise Meitner, Vera Rubin und Chien-Shiung Wu zum Beispiel. Oder Jocelyn Bell Burnell, die Entdeckerin der ersten Pulsare: Als sie ihrem Doktoratsbetreuer Antony Hewish von ihrer Beobachtung erzählte, hielt er das zunächst für Zeitverschwendung. Und wer erhielt den Nobelpreis dafür? Hewish. Sie bekam nichts. Mileva Maric-Einstein muss man in diesem Zusammenhang auch erwähnen - ihr Fall ist allerdings schwieriger zu entwirren.

Über den Beitrag von Mileva Maric zu den Arbeiten ihres Mannes Albert Einstein gab es immer wieder Spekulationen. Vor allem, was die Spezielle Relativitätstheorie angeht.

Pauline Gagnon: Ich bin überzeugt davon, dass die beiden gemeinsam an dieser Theorie gearbeitet haben. Acht Jahre lang vor der entscheidenden Publikation im Jahr 1905. Wer hier welchen Beitrag geleistet hat, wird sich vermutlich niemals aufklären. Nach heutigen Standards hätte Maric wohl Anspruch darauf, als Koautorin genannt zu werden.

Leider gibt es kaum Dokumente zu dieser Frage. Es ist nur einen Brief aus dem Jahr 1901 erhalten, in dem Einstein von „unserer Arbeit über Relativbewegungen“ schreibt.

Pauline Gagnon: Das belegt aus meiner Sicht klar, dass die beiden zusammengearbeitet haben. Es gibt auch viele andere Briefe, in denen die Formulierung „unsere Arbeit“ vorkommt.

In Bezug auf die Spezielle Relativitätstheorie?

Pauline Gagnon: In Bezug auf Physik im Allgemeinen. Im Einstein-Archiv in Jerusalem befinden sich zum Beispiel Einsteins Vorlesungsunterlagen aus dem Jahr 1909. Sie tragen die Handschrift seiner Frau. Und es finden sich jede Menge Korrekturen darauf, das war nicht nur eine Kopie. Aus dem gleichen Jahr gibt es auch einen Brief an Max Planck - es ging um Plancks Einschätzung eines Fachartikels - dieser Brief wurde ebenfalls von Mileva Maric verfasst. Beide Dokumente sind für mich ein Beweis, dass Maric auch zu dieser Zeit am kreativen Prozess beteiligt war. In diese Richtung weisen auch Beobachtungen von Zeitgenossen. Mileva Maric’ Bruder berichtete zum Beispiel, er habe die beiden bis spät abends gemeinsam arbeiten gesehen: schreibend, rechnend und debattierend.

Der Wissenschaftshistoriker John Stachel kommt zu folgendem Resümee: Dass Maric für Einstein eine wichtige intellektuelle Inspirationsquelle gewesen ist, lasse sich belegen. Alles weitere sei spekulativ.

Pauline Gagnon: Wenn damit gemeint ist, sie sei bloß ein Resonanzboden gewesen, dann würde ich widersprechen. Als der Aufsatz über die Spezielle Relativität zur Veröffentlichung eingereicht war, sagte Maric zu ihrem Vater: „Wir haben soeben einen Artikel fertiggestellt, der meinen Mann berühmt machen wird.“ Sie hat ihr Physikstudium an der Eidgenössischen Polytechnischen Schule, wie die ETH Zürich damals hieß, niemals abgeschlossen, weil sie bei der Abschlussprüfung zweimal durchfiel. Solche Prüfungen wurden damals hinter verschlossenen Türen abgehalten. Wenn man sich ihre Prüfungsergebnisse davor ansieht, fällt auf: Sie hatte sogar etwas bessere Note als Einstein. Wie kommt es, dass gerade sie durchfiel? Dass Maric in keiner der gemeinsamen Arbeiten als Autorin aufscheint, kann auch daran liegen, dass Veröffentlichungen von Frauen als weniger wertvoll angesehen wurden. Manche denken heute immer noch so, Alessandro Strumia zum Beispiel.

Ihr Argument lautet: Man sollte die Lebensgeschichte Mileva Maric’ aus einem anderen Blickwinkel betrachten - aus der Perspektive der Minderheit?

Pauline Gagnon: Ganz genau. Hans Albert Einstein, der Sohn von Mileva Maric und Albert Einstein, sagte einmal: „Ich wünschte, meine Mutter würde die Anerkennung erhalten, die sie verdient.“ Er hat als Kind miterlebt, wie seine Eltern jeden Tag am Wohnzimmertisch saßen und miteinander arbeiteten.

Mit der Prognose, dass ihr Mann einmal berühmt werden könnte, sollte Mileva Maric Recht behalten. Der Beziehung der beiden hat das nichts genützt, eher im Gegenteil.

Pauline Gagnon: Das Leben von Mileva Maric war eine unglaubliche Tragödie. Sie war eine brillante junge Frau, die erste Serbin, die ein Physik- und Mathematikstudium absolvierte. Noch dazu an einer der prestigeträchtigsten Hochschulen Europas. Ihr Lebenstraum war es, mit ihrem Mann zusammenzuarbeiten. Doch sie hat alles verloren. Sie konnte das Studium nicht abschließen und wurde von ihrem Mann verlassen. Die 30 Jahre nach der Scheidung waren Jahre des Elends.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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