„Nationalstaaten waren Völkerkerker“

Oft wurde das Habsburgerreich als „Völkerkerker“ bezeichnet, das nicht zuletzt deshalb vor 100 Jahren auseinandergebrochen ist. Der US-Historiker Pieter Judson sieht das anders. Die echten Völkerkerker seien die neuen Nationalstaaten geworden, so Judson.

Nach einer Vielzahl lokaler Studien kommen Sie zum Schluss, dass das Habsburgerreich 1918 nicht aufgrund innerer Nationalitätenkonflikte ohnehin am Rande des Abgrunds stand und die Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht nur vollendet hat, was schon längst angelegt war. Die nationalen Gegensätze lösen sich für Sie bei näherer Betrachtung sogar größtenteils in Luft auf. Woher kommt dann das Bild von der Habsburgermonarchie als Völkerkerker?

Pieter Judson

ORF - Walter Gerischer-Landrock

Pieter Judson ist Amerikaner, geboren in den Niederlanden, wuchs in den USA auf und ist derzeit Professor für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Sein Buch „Habsburg. Geschichte eines Imperiums“ ist 2017 im C.H. Beck Verlag erschienen (PDF-Leseprobe).

Pieter Judson: Am wichtigsten sind für mich die Versuche der nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Nationalstaaten, ihre Existenz zu legitimieren. Sie wählten ein Narrativ vom Ende der Geschichte, das irgendwie in dieser nationalen Emanzipation mündet. Wir waren unterdrückt, hunderte Jahre lang, wir waren eingesperrt in diesem Völkerkerker und jetzt sind wir frei, das ist ein Neubeginn. Wir, die neuen Staaten in Osteuropa, sind modern, wir sind ein Teil der Zukunft. Und diese Geschichte wurde natürlich überall in verschiedenen Fassungen erzählt, und man begegnet ihr auch heutzutage noch, weil wir jetzt nicht nur an hundert Jahre Ende des Ersten Weltkrieges denken und nicht nur an den Zerfall der Monarchie, sondern auch an die Geburt der neuen Staaten. Und das muss natürlich gefeiert werden.

Sie sagen aber, dass der November 1918 keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit markierte, das Verschwinden Österreich-Ungarns von der politischen Landkarte hätte sich auf das Leben der meisten Menschen kaum ausgewirkt. Lebensmittelknappheit, Wohnraummangel und seuchenartige Krankheiten blieben den Menschen noch mehrerer Jahre nach Kriegsende erhalten, und mehrere Nachfolgestaaten behielten Gesetze des alten Reichs bei, oft beließen sie sogar dieselben Personen in maßgeblichen Positionen.

Judson: Die Kontinuitäten sind erstaunlich: also im Sinn von Gesetzen, im Sinn von Institutionen, im Sinn von Verwaltungspraxis, aber auch im Sinn von Personal. Vor allem in dem Bereich des Militärs, aber auch manchmal unter den höheren Behörden. Die nationalistischen Bewegungen – vor allem in der österreichischen Reichshälfte – hatten für sich schon vor 1914 ihre eigenen Kleinreiche unter dem Beamtentum aufgebaut, und die wollten sie natürlich nach dem Krieg nicht aufgeben. Sie wollten eine gewisse Stabilität erhalten, keine Sozialrevolution zulassen und brauchten also Expertisen von Menschen, die sehr viel Erfahrung hatten, zum Beispiel im Militär, aber nicht zu der neuen regierenden Nation gehörten. Man hat von diesen Kontinuitäten nicht sehr viel gesprochen, aber es gab sie.

Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich in Mährisch-Schönberg (Zeitungsschnitt aus "Das interessante Blatt" vom 18.11.1918)

ÖNB

Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich in Mährisch-Schönberg, Šumperk, Zeitungsschnitt aus „Das interessante Blatt“ vom 18.11.1918

Sie führen in ihrem Buch das Beispiel von Czernowitz an, wo die Führer der deutschsprechenden Gemeinde nach Kriegsende eine Loyalitätsadresse an ihre neue Reichshauptstadt Bukarest übermittelt haben, die im gleichen Geist formuliert war wie einst die an die Hauptstadt Wien. Rumänische Nationalisten verwehrten sich solche Beziehungen und forderten ein Verschwinden des Bukowinismus. Wörtlich hieß es da etwa beim rumänischen nationalistischen Historiker Ion Nistor: „Die Bukowina hat sich mit Rumänien vereinigt und innerhalb dessen Grenzen ist kein Platz für den homo bucovinensis, sondern nur für den civis Romaniae.“

Ö1-Sendungshinweis

Pieter Judson ist auch Gast im Radiokolleg Spezial „1918“ Anatomie einer Zeitenwende, 13.11., 9:05 Uhr und 22:08 Uhr.

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Judson: Diese deutsche Gemeinde in Czernowitz verfügte über eine lange Erfahrung als eine Volksgruppe unter vielen in der Bukowina. Sie waren Wien treu und jetzt war sozusagen Bukarest das neue Wien, somit haben sie eben Bukarest ihre Loyalität ausgesprochen. Sie wollten dann aber auch dafür ihre eigenen Schulen erhalten, ihre verschiedenen wirtschaftlichen Institutionen wie Kreditbanken und ihr Theater. Genau das lehnte die rumänische Regierung ab. Die wollte nicht wie ein Imperium regieren, in dem es Platz gab für diese Mischung von verschiedenen Nationen, sondern es sollten alle rumänisiert werden. In vielen Nachfolgestaaten traf man auf diese Haltung. Nur was macht man, wenn 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung nicht einmal der Nationalsprache mächtig sind? Man kann den Nationalstaat zwar verkünden, Tatsache aber ist, dass es keiner ist. In der Folge greift man auf verschiedene neue Methoden zurück, um die Menschen zu zwingen oder sie wegzubekommen. Das ist dann auch die Tragödie der dreißiger Jahre.

Tomáš Masaryk, der Präsident der neu gegründeten Tschechoslowakei, vertrat die Ansicht, dass große Reiche nur durch Unterdrückung zusammengehalten werden können und dass die Zeit solcher Reiche vorbei war, weil der weltweite Triumph der Demokratie ihre Existenz unmöglich gemacht hat. Die Existenz der Nationalstaaten stellte für ihn also einen Sieg der Demokratie dar. Sie vertreten aber die Auffassung, dass die neuen Nationalstaaten wie kleine Reiche funktionierten, also wie die Monarchie im Kleinen, und dass diese Nationalstaaten dann meist viel schlimmer noch als vor 1918 all jene unterdrückten, die nicht der Leitnation angehört haben.

Judson: Ja, die neuen Nationalstaaten wurden die echten Völkerkerker. Und ich denke, dass Masaryk es besser gewusst hat als es dieses Zitat wiedergibt. Ich möchte betonen, dass die Tatsache, dass es einen Nationalstaat oder einen selbst ernannten Nationalstaat gibt, nichts mit Demokratie zu tun hat, weil die Demokratie stets auf Rechten des Individuums beruht. Die Nationalisten haben 1918 die Demokratie anders verstanden. Als Rechte der Gruppe, Rechte der Nation und nicht als Rechte des Individuums. Angehörige von Minderheiten hatten es schwer in der Zwischenkriegszeit. Man konnte oder durfte die Nationalität nicht auswählen, während die meisten in der österreichischen Reichshälfte immer eine Wahl hatten. In Böhmen konnten sie ihre Kinder beispielsweise in eine tschechische oder in eine deutsche Schule schicken, in der Steiermark in eine slowenische oder in eine deutschsprachige. Das war nach dem Krieg in den neuen Nationalstaaten nicht mehr möglich. Die Nationalität wurde von dem Staat bestimmt und nicht vom Individuum gewählt - das war ein großer Unterschied. Daher meine ich, dass die neuen Staaten die eigentlichen Völkerkerker waren.

Mojim narodom! (An meine Völker!): Schreiben von Kaiser Karl vom 21. November 1916 in slowenischer Sprache

ÖNB

Mojim narodom! (An meine Völker!): Schreiben von Kaiser Karl vom 21. November 1916 in slowenischer Sprache

Heißt dies, dass diese neuen Staatswesen auf dem Gebiet der ehemaligen Monarchie gar nicht so radikal neu waren wie die neuen Staaten selbst behaupteten?

Judson: Nicht radikal neu im Sinne von Menschenrechten. Ich möchte aber auch kein nostalgisches Bild von der Monarchie verbreiten, die Monarchie hatte ihre Probleme und ihre Herausforderungen wie alle europäischen Staaten vor 1914. Aber auf der anderen Seite gab es keine riesigen Umwälzungen durch die neuen Nationalstaaten. Am Anfang ja, da gab es Demokratie, die Einführung des Frauenwahlrechts, aber die Machtpositionen, Situationen und Dynamiken hatten sich nicht wirklich so sehr geändert. Ich glaube, dass man erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich radikale Änderungen in verschiedenen Richtungen erlebte.

Sie führen als bisher wenig beachteten Grund für das Auseinanderbrechen der Monarchie an, dass das Reich eine der entscheidenden Schlachten des Krieges dadurch verloren hat, dass es der humanitären Katastrophe auf dem eigenen Territorium nicht Herr werden konnte. Infolge der russischen Offensive gab es gleich zu Beginn zigtausende Flüchtlinge aus Galizien, die in Lagern untergebracht wurden, in denen katastrophale Bedingungen herrschten. Dem Reich gelang es nicht, schreiben Sie, das Denken und Fühlen tausender vertriebener Männer und Frauen weiter für sich einzunehmen. Diese fühlten sich dann als Bürger zweiter Klasse und waren so leicht für die Anliegen von Nationalisten zu gewinnen.

Judson: 1914 kam das völlig unerwartet, man hatte keine Erfahrung mit so vielen Flüchtlingen. Die Bedingungen in diesen Lagern waren wirklich schlimm. Interessant ist, dass die Regierung später neue Lager mit besseren Bedingungen, mit Kirchen und besserer Küche errichtet hat, es gab auch zum Beispiel Lagerzeitungen. Aber das kam alles zu spät. Für viele Gemeinden war die hohe Zahl an Flüchtlingen natürlich sehr unangenehm. Auf der anderen Seite verlangten Gemeinden in Österreich-Ungarn von der Regierung die Errichtung eines Lagers, weil sie sich davon einen wirtschaftlichen Aufschwung erhofften. Neben der Erfahrung vieler, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, war der andere Grund für den Zusammenbruch der Monarchie die Bereitwilligkeit der Regierungskreise, auf den Rechtsstaat zu verzichten. Mit der Einführung der Militärdiktatur im Sommer 1914 wurde der Reichstag aufgelöst, die Zensur der Presse wiedereingeführt und verschiedene Grundrechte wie das Recht auf Freiheit der Rede und der Versammlung außer Kraft gesetzt.

Und als dann nach dem Tode Kaiser Franz Josephs 1916 der neue Kaiser Karl I. die Militärdiktatur beendete und auch den Reichsrat wieder eröffnete, bewirkte diese Liberalisierung eine Verschärfung der Meinungsverschiedenheiten statt dem beabsichtigten Schulterschluss der Politiker hinter dem neuen Regenten. Wieso eigentlich?

Judson: Eine solche Dynamik sehen wir auch heute öfter. Man muss sich vorstellen, dass nach zweieinhalb Jahren wirklich strenger Zensur und strenger Militärdiktatur auf einmal die Leute in der Öffentlichkeit ein bisschen mehr reden durften. Auch jene Politiker, die wussten, wie die Leute zu Hause sich aufgeregt hatten. Der Reichsrat war natürlich eine Bühne für sie, und sie mussten natürlich alles, was „ihren Leuten“ passiert ist, irgendwie zur Sprache bringen. Natürlich kam es zu keinem Schulterschluss. Alle haben sich zerstritten und wollten dann eine Wiedergutmachung von der Regierung. Es war unmöglich, dieser Situation Herr zu werden.

Interview: Wolfgang Ritschl, Ö1-Wissenschaft

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