Zwischen Konflikt und Konsens

Heute feiern alle großen Parteien Österreichs Staatsgründung vor 100 Jahren, doch das war nicht immer so. Nach jahrzehntelangen Konflikten wurde erst 1968 ein Konsens erzielt, wie die Historikerin Heidemarie Uhl in einem Gastbeitrag schreibt.

Österreich feiert 100 Jahre Staatsgründung, mit Stolz auf die unblutige parlamentarische Revolution 1918 und getragen vom Bekenntnis aller politischen Lager zu Republik und Demokratie. Das ist nicht selbstverständlich. Der 12. November 1918 war jahrzehntelang ein Konfliktgenerator, der die ideologische Spaltung der österreichischen Gesellschaft sichtbar werden ließ.

Portrait von Heidemarie Uhl

APA, Robert Jäger

Heidemarie Uhl ist Historikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Dabei ging es der Koalitionsregierung von Christlichsozialen und Sozialdemokraten 1919 beim Beschluss über den Staatsfeiertag gerade darum, einen Tag zu schaffen, der „die Zusammengehörigkeit von Bürger und Staat“ zum Ausdruck bringt. Mit dem Zerfall der großen Koalition schwand aber auch der parteienübergreifende Konsens. Die Sozialdemokratische Partei schrieb die Verdienste an der Republikgründung allein auf ihre Fahnen und dominierte in Wien und anderen urbanen Zentren durch Veranstaltungen und Aufmärsche den öffentlichen Raum. Der 12. November wurde auch deswegen zum Feiertag der Sozialdemokratie, weil die Christlichsoziale Partei keinen Grund zur Freude sah. Viele Repräsentanten des katholisch-konservativen Lagers waren im Herzen Monarchisten geblieben, die demokratische Republik wurde „als kleinstes der möglichen Übel“ (Anton Pelinka) hingenommen.

Feiern von der Straße in die Amtsräume verlegt

Von Regierungsseite kamen dementsprechend nur zögerliche Versuche, dem Staatsfeiertag offiziell Leben einzuhauchen, wie Julia Köstenberger gezeigt hat. Militärparaden, zunächst auf dem Heldenplatz, dann 1923/24 auf der Ringstraße vor dem Parlament, wurden immer wieder durch Pfiffe beim Abspielen des Radetzkymarschs und für Truppeneinheiten, die Orden aus der Zeit der Monarchie trugen, gestört. Wohl aus diesem Grund wurde die Regierungsfeier 1925 vom öffentlichen Raum in die Amtsräume des Bundespräsidenten (im heutigen Bundeskanzleramt am Ballhausplatz) verlegt, wo jährlich ein Empfang des Bundespräsidenten stattfand.

Nur den zehnten Jahrestag der Ausrufung der Republik begingen Regierung und Parlament in größerem Rahmen und gemeinsam. Die Feiern am 12. November 1928 begannen mit einem Festgottesdienst im Stephansdom, in einer Festsitzung des Nationalrates wurden die Errungenschaften des jungen Staates gewürdigt. Die offiziellen Veranstaltungen wurden allerdings von den Feierlichkeiten der Stadt Wien weitaus in den Schatten gestellt.

Höhepunkt eines beeindruckenden Massenaufmarschs auf der Ringstraße war die Enthüllung des Republikdenkmals, das allerdings allein sozialdemokratischen Politikern gewidmet war, dem Parteiführer Victor Adler, Jakob Reumann, erster sozialdemokratischer Wiener Bürgermeister, und Ferdinand Hanusch, bis 1920 Staatssekretär für soziale Verwaltung. Letztmalig wurde der Staatsfeiertag 1933 begangen.

Verhülltes Republikdenkmal

ÖNB

Mit Kruckenkreuzen verhängtes Republikdenkmal mit Bild von Engelbert Dollfuß.

Öffentliche Feiern waren aufgrund der autoritären Maßnahmen des Dollfuß-Regimes nicht mehr möglich. Die Sozialdemokratie versuchte das Aufmarschverbot mit einem organisierten Spaziergang zu umgehen. 225 Personen, darunter Karl Renner, wurden verhaftet. Nach der Niederschlagung des Februaraufstands 1934 wurde das Republikdenkmal mit Kruckenkreuz-Fahnen verhüllt und schließlich abgetragen. 1934 erfolgte die Umwidmung des 1. Mai, traditioneller Kampftag der Arbeiterbewegung und seit 1919 ebenfalls Feiertag, zum Staatsfeiertag im „dauernden Gedenken an die Proklamation der Verfassung 1934“. Zugleich wurde der 12. November als Feiertag abgeschafft.

Renner: „Ungünstiges Feierwetter im November“

Die Zweite Republik übernahm bekanntlich die Staatsfarben und das durch gesprengte Ketten ergänzte Staatswappen. An die Tradition des 12. November wurde hingegen ganz bewusst nicht angeknüpft. Die Konfliktgeschichte des Staatsfeiertags der Ersten Republik stand im Gegensatz zu den Bemühungen, die Gräben zwischen den politischen Lagern zu überwinden.

Staatskanzler Karl Renner lehnte am 6. November 1945 die Wiedereinführung des Republikfeiertags mit dem lapidaren Argument ab, die „ungünstige Wetterlage, die um diese Zeit gewöhnlich herrscht“, sei „für festliche Veranstaltungen sehr ungünstig“. Die Entscheidung über den staatlichen Feiertag „können wir uns aber für später vorbehalten“, meinte Renner – es sollte noch zwei Jahrzehnte dauern, bis sich die Parteien auf einen Nationalfeiertag einigen konnten.

In diesen beiden Jahrzehnten ohne offiziellen nationalen Feiertag blieb der 12. November jedenfalls auf Parteiebene weiterhin ein „‚heißes‘ Datum“ (Florian Wenninger). Für die Sozialdemokratie war der 12. November nach wie vor ‚ihr‘ Feiertag. Zum 30-jährigen Republikjubiläum 1948 enthüllte die SPÖ das wiedererrichtete Republikdenkmal, feierte den republikanisch-demokratischen Aufbruch nach dem Ende der verhassten Habsburgermonarchie und blickte mit Stolz auf die eigene Geschichte zurück.

Wiederenthüllung des Republikdenkmals am 12.11.1948

ÖNB / Blaha

Wiederenthüllung des Republikdenkmals am 12.11.1948

ÖVP-Blatt: “Einer der düstersten Tage “

1948 veranstaltete die ÖVP im Wiener Konzerthaus ihre erste und bis 1968 einzige Feier zur Republikgründung. Sie stand im Zeichen der Distanzierung von der eigenen diktatorischen Vergangenheit. Bundeskanzler Leopold Figl legte ein „machtvolles Bekenntnis der österreichischen Volkspartei zu unserer Heimat und unserer demokratischen Verfassung“ ab.

Für die ÖVP blieb der 12. November allerdings weiterhin ein negativ besetztes Datum. Im November 1958 mokierte sich das Parteiorgan „Kleines Volksblatt“ über die SPÖ-Feiern zur 40-jährigen Wiederkehr des Geburtstages der Republik Österreich. Der Zusammenbruch des großen alten Reiches sei kein Tag zum Feiern, sondern einer der „düstersten Tage der neueren österreichischen Geschichte“. Weder 1948 noch 1958 fanden offizielle Feierlichkeiten von Regierung und Parlament statt.

1968: 1918 als „bewältigte Vergangenheit“

Das Konfliktpotenzial des jahrzehntelang heiß umkämpften 12. November wurde erst 1965 durch den großkoalitionären Kompromiss über einen neuen Nationalfeiertag entschärft. Drei Jahre später eröffnete der 50. Jahrestag den Rahmen, um nun unter der Ägide der ÖVP-Alleinregierung einen neuen positiven Konsens über die Republikgründung zu manifestieren.

Das umfangreiche Festprogramm begann mit einem Festgottesdienst im Stephansdom. Am 12. November 1968 wurden die öffentlichen Gebäude in ganz Österreich beflaggt. Die Festsitzung von Nationalrat und Bundesrat im Parlament wurde im Fernsehen übertragen. Nationalratspräsident Alfred Maleta sprach von einer „glücklich bewältigten Vergangenheit“ und würdigte die Abgeordneten von 1918, die „trotz ihrer parteipolitischen Ressentiments und Gegensätze“ über ihren Schatten gesprungen seien und sich „als Baumeister einer neuen staatlichen Ordnung bewährten“.

Gedächtnisort erkaltet

Das 50-jährige Republikjubiläum beschränkte sich nicht nur auf die offiziell-staatliche Ebene. Die beachtliche gesellschaftliche Resonanz zeigt sich in der Vielzahl von Veranstaltungen und Medienberichten bis hin zum ORF mit der TV-Dokumentation „50 Jahre Republik“ von Hellmut Andics im Hauptabendprogramm. Highlights waren die modern gestaltete „Wiener Jubiläumsausstellung 1968“ im Rathaus und die Ausstellung des Staatsarchivs „50 Jahre Republik Österreich in Dokumenten“ im Kriegsarchiv in der Stiftskaserne.

1968 war das erste Gedenkjahr avant la lettre – eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem bisher höchst umstrittenen Gründungsdatum von Staat und Republik. Nach dieser umfassenden Historisierung erkaltete der Gedächtnisort 1918 rasch. Das konfliktträchtige Datum war 1968 erfolgreich und konsensual „bewältigt“ worden. Kontroversen um die ‚unbewältigte‘ Vergangenheit entzündeten sich in der Folge an „1938“ – Opferthese vs. Mitverantwortung – und „1945“ – befreit vs. besetzt. Großartig umgesetzt von einem jungen Team von Historikern und Historikerinnen sind diese Debatten nun im Haus der Geschichte Österreich, dem neuen Zeitgeschichte-Museum in der Hofburg, aus- und zur Diskussion gestellt.

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