Identitätspolitik unter Druck

Identität ist en vogue: Für politische Ziele gekämpft wird zunehmend unter der Annahme, dass man Teil einer – diskriminierten – Gruppe ist. Das macht Solidarität zwischen diesen Gruppen schwierig, meint der britische Literaturtheoretiker Terry Eagleton.

Der „radikale Sozialist“ Terry Eagleton hat sich im Laufe seines 75-jährigen Lebens schon mit einigen Steckenpferden der Linken angelegt, etwa mit den „Illusionen der Postmoderne“, wie eines seiner bekanntesten Bücher heißt. Auf Deutsch erschien zuletzt das Buch “Materialismus. Die Welt erfassen und verändern“ im Promedia-Verlag.

science.ORF.at: Identitätspolitik ist momentan in aller Munde. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama etwa hat vor Kurzem in seinem neuen Buch gemeint, dass die Linke in den letzten 30 Jahren zu viel Wert auf Minderheiten gelegt hat und zu wenig auf die wachsende sozioökonomische Ungleichheit – was nicht zuletzt zum Erstarken rechter und autoritärer Parteien beigetragen hat. Sie bezeichnen sich selbst als radikaler Sozialist: Finden Sie auch, dass sich die Linke mehr um die sozial Schwachen kümmern sollte als um identitätspolitische Fragen?

Terry Eagleton mit seinem Buch "Materialismus"

Lukas Wieselberg, ORF

Terry Eagleton (75) ist Professor für Englische Literatur an der Lancaster University. Zur Präsentation des Buchs „Materialismus“ war er vor Kurzem in Wien zu Gast.

Terry Eagleton: Ich zögere, eine der beiden Seiten zu bevorzugen – entweder die sozioökonomische oder die identitätspolitische. Sicher ist: Es gibt heute einen Konflikt zwischen vermeintlich aufgeklärten, kosmopolitischen Liberalen und Menschen, die voll Angst sind und voll Wut. Die Versuchung ist groß, sich einer Seite anzuschließen. Aber als Radikaler muss man versuchen zu verstehen, warum die Situation so ist, wie sie ist. Und ich denke, dass es eine geheime Verbindung zwischen den beiden Phänomen gibt: Je rücksichtsloser und globalisierter der Kapitalismus wird, je weniger er sich um Menschen und Gemeinschaften kümmert, desto stärker und mitunter aggressiver betonen manche die Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinschaft. Leute wie Fukuyama haben um 2000 vom Ende der Geschichte gesprochen – wobei sie damit letztlich gemeint haben, dass der Kapitalismus als letztes Pferd im Stall übriggeblieben ist. Sie dachten auch, dass das einzige Problem die Inklusion sei, also möglichst viele Menschen einzuschließen. Inklusion ist zum buzzword der Identitätspolitik geworden. Man sollte aber, denke ich, weniger darüber nachdenken, worin man hier eingeschlossen werden soll.

Wie beurteilen Sie Identitätspolitik generell?

Eagleton: Ich bin ambivalent. Auf der einen Seite hat sie die Aufmerksamkeit von Dingen, die es zu meiner Zeit (lacht) in den 60er und 70er Jahren gab, verlagert – von Dingen wie Produktionsmittel, Revolution oder Ideologie. Auf der anderen Seite: Nachdem sich mit Reagan, Thatcher und Co. eine sehr aggressive Form des Kapitalismus etabliert hat und die Arbeiterbewegung zurückgeschlagen wurde, mussten die Energien irgendwo hingehen. Einer der Plätze war die Identitätspolitik. Das ist fein, denn im besten Fall reichert sie die oft sehr verarmte Sprache der marxistischen Linken an: Sie konnten so nicht mehr nur über Klassenkampf und Produktion sprechen, sondern auch in andere Bereiche vordringen. Das brachte die Politik näher an den Alltag der Menschen, an ihre Lebensrealität, ihr Geschlecht, ihre Hautfarbe, ihre sexuelle Orientierung. Für die Linke war das ein Schritt vorwärts. Aber eigentlich sollten wir uns mehr darüber beschweren, dass wir überhaupt so viel Energie verschwenden müssen für Dinge wie Gender, Hautfarbe und Sexualität - die letztlich gar nicht so wichtig sind. Denn wer zum Teufel sollte sich am Ende des Tages darum wirklich scheren? (lacht) Wir sollten uns auf den Tag freuen, an dem das nicht mehr nötig ist und wir auch nicht mehr über Klassenkampf reden müssen, sondern uns wichtigeren Dingen zuwenden können. Wie z.B. der sehr kuriosen Größe der Ohren von Prinz Charles, von denen ich annehme, dass sie die einzigen Phänomene auf der Erde sind, die man neben der Chinesischen Mauer auch vom Weltall aus sehen kann. (lacht)

Sie sagen, Sie sind ambivalent gegenüber der Identitätspolitik, worin liegen ihre Probleme?

Ö1-Sendungshinweis

Dimensionen am 13. 11., 19:05 Uhr: Wer Identität sät, wird Identitäre ernten: Über die Verwandtschaft linker und rechter Identitätspolitik.

Eagleton: Das ist eine komplexe Frage. Wie schon gesagt, es sind einige Begriffe aus der Debatte verschwunden wie Ideologie, aber auch Solidarität. Dabei waren es nicht Unterschiede oder Inklusion oder Identität, was die Apartheid in Südafrika und die neostalinistischen Regimes in Osteuropa beseitigt hat, sondern es war Solidarität! Der Begriff ist aber in Ungnade gefallen. Warum? Weil ihn manche mit Uniformität verwechseln, die über Differenzen hinwegtrampelt. Ich denke, wir sollten eine Solidarität über die zunehmend getrennten Identitäten entwickeln. Denn das ist eines der Probleme mit der Identitätspolitik: Sie fragmentiert die Gesellschaft in viele kleine Gruppen, die alle ihre eigene Kämpfe kämpfen. Fakt ist: Geschlecht, Ethnizität, sexuelle Orientierung etc. sind heute grundlegende Terrains des politischen Kampfes. Aber sie sind nicht das, was die Welt regiert. Die Welt regiert nach wie vor das Kapital. Die Herren der Welt sind die Chefs und CEOs der transnationalen Unternehmen. Sie bestimmen die Logik, innerhalb derer der Kampf um die Identitäten ausgetragen wird. Wenn man diesen Rahmen nicht anrührt und sich „nur“ mit der eigenen Identität beschäftigt, wird man die grundlegenden Probleme nicht erreichen. In diesem Sinne ist der alte Kampf der Menschen gegen Profit so relevant wie immer.

Die Rechte antwortet auf die aktuellen Krisen mit ihrer Version von Identitätspolitik, mit der Betonung von Familie, Nation, Ethnie etc. Warum ist das so viel erfolgreicher?

Eagleton: Es wurden enorme Energien gegen das herrschende System freigesetzt, viele davon sind von der Rechten okkupiert. Diese war aber schon historisch „erfolgreich“, denken wir an den Zweiten Weltkrieg. Ich glaube auch, es ist überhaupt nichts Falsches daran, „zu etwas zu gehören“. Das ist ganz natürlich, auch wenn die Postmodernen das nicht gerne hören und alles für Ideologie halten. Das ist aber Unsinn, denn als soziale Wesen wollen wir natürlich zu etwas zu gehören. Nicht natürlich ist es hingegen, zu wollen, dass alle anderen nicht hierher gehören sollen, und diesen Impuls mit Blut und Boden verknüpfen. Ich würde mich sogar so weit aus dem Fenster lehnen – extrem mutig, wie ich finde (lacht) – und sagen, dass es ist nicht einmal schlimm ist, sich mit Leuten der eigenen Art zu umgeben, der eigenen Hautfarbe, der gleichen sexuellen Orientierung etc. Das kann sehr entspannend und nett sein, weil man Selbstverständlichkeiten miteinander teilt. Problematisch wird es, wenn sich das mit Hass gegenüber Fremden verbindet. Das Paradigma der Liebe im christlichen Gospel ist nicht die Liebe zu Freunden – diese Liebe ist einfach, Freunde kann jeder lieben – sondern die Liebe zum Fremden und zum Feind. Es ist fast unmöglich so jemanden zu lieben – und zwar nicht im westlichen Sinne mit einem behaglich glühenden Herz in der Brust, sondern im Sinnen von: jemandem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der ein kompletter Fremder ist. Das ist der Test der Liebe im Gospel, ein sehr hoher Standard.

Rechte würden sagen: Ihr Linken liebt die Fremden immer mehr als die eigenen Leute. Daraus hat sich die Diskussion um einen linken Patriotismus oder Nationalismus entwickelt. Halten Sie das für eine gute Idee?

Eagleton: Ich halte einen linken Nationalismus für gefährlich. Wir sollten uns vielmehr fragen, woher die Fremdenangst kommt. Wenn man den gesellschaftlich produzierten Mehrwert verwenden würde, um materielle Nöte der Menschen wie Bildung, Wohnungen oder Arbeit zu bekämpfen, dann hätten wir einige der Konflikte gar nicht. Natürlich wären sie nicht automatisch weg. Ich habe irische Wurzeln und lebe jetzt in Nordirland. Der Hass dort ist noch so frisch wie vor 20 Jahren. Ihn zu heilen dauert länger, aber: Er ist nicht so wichtig, solange man die ökonomischen Probleme bekämpft.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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