Moderne „Menschenfresser“ in Brasilien

Vor neunzig Jahren ist in Brasilien ein „Kannibalenmanifest“ erschienen. Eine politisch-künstlerische Denkschule knüpfte damit an eine Urangst der Kolonialisten an und erschütterte Selbst- und Fremdbilder, schreibt die Romanistin Melanie Strasser in einem Gastbeitrag.

Die kulturellen Strömungen des Modernismus im Brasilien der 1920er Jahre kreisen vornehmlich um die Frage nach einer nationalen Identität. Ein Jahrhundert nach der Abspaltung von Portugal strebt man danach, sich endlich auch kulturell von Europa unabhängig zu machen. Der wirkmächtigste Versuch einer solchen Unabhängigkeitserklärung ist die sogenannte Anthropophagie, die metaphorische Menschenfresserei, die rituelle Einverleibung und Verschlingung des Anderen zum Zwecke der Schaffung eines Eigenen.

Porträtfoto von Melanie Strasser

IFK

Über die Autorin:

Melanie P. Strasser ist Doktorandin am Institut für Romanistik der Universität Wien und derzeit IFK_Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz in Wien.

Als Akt der Einverleibung, Verschlingung europäischer Kulturformen und deren Transformation in ein Eigenes, „Brasilianisches“, wird die Anthropophagie als Form des Widerstands gegen die nach wie vor wirksame Vorherrschaft Europas in Kunst, Kultur und Literatur zelebriert. Anstatt den übermächtigen Feind also zu negieren oder zu imitieren, wird er kurzerhand verschlungen.

Der böse Wilde

Jahrhundertelang war der Kannibale ein zentraler Topos des kolonialen Diskurses, er prägte die sogenannte Neue Welt wie kein anderer. In ihren Reiseberichten aus dem 16. Jahrhundert schildern die europäischen Kolonisatoren detailliert die Praktiken der indigenen Bewohner des Landes, die als grausame, unzivilisierte Barbaren portraitiert werden.

Ob die kannibalischen Rituale tatsächlich vollzogen wurden oder vielmehr ein europäisches Phantasma bilden, sei dahingestellt: Wichtig ist die symbolische Wirkmacht des Kannibalismus, der die Errichtung des Systems von Ausbeutung und Unterdrückung, dessen Fundament konstituiert ist durch die Opposition von Kultur und Barbarei, wesentlich mitbegründet.

Die modernistische Bewegung der Anthropophagie nimmt nun das Fremdattribut des unzivilisierten Menschenfressers auf, um es in einem ironischen Gestus zu bejahen. Im Zentrum der Anthropophagie steht nicht mehr der edle Wilde, wie ihn auch die brasilianische Romantik im Anschluss an Rousseau kultiviert hatte, sondern der widerspenstige, aufsässige Kannibale, Verschlinger des Weißen.

Das Menschenfresser-Manifest

Vor neunzig Jahren, genauer gesagt „im Jahr 374 nach der Verspeisung des Bischofs Sardinha” an der brasilianischen Küste, veröffentlicht Oswald de Andrade, inspiriert durch ein Bild von Tarsila do Amaral, sein „Anthropophages Manifest” (1928).

„Tupi or not Tupi, that is the question“. Mit dieser Formel übersetzt Oswald de Andrade den Ausdruck europäischen Weltschmerzes schlechthin - Sein oder Nicht-Sein - spöttisch in die brasilianischen Tropen. Shakespeare, der Repräsentant der europäischen Literatur schlechthin, wird verschlungen und mutiert in ein genuin Brasilianisches, den Protagonisten der Anthropophagie, den Indio, Tupi.

Ausschnitt aus dem "Menschenfressermanifest"

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Ausschnitt aus dem „Menschenfresser-Manifest“

Anthropophage Vernunft

Oswald de Andrade fordert eine „anthropophage Impfung“, also ein Gegengift für den westlichen Logos, der an den Grenzen zwischen Kultur und Natur, Geist und Körper festhält. Dieser Logos entspricht dem „Konservenbewusstsein“, einem begrenzten Bewusstsein, das sein Anderes ausschließt. Die aufgeklärte westliche Vernunft negiert und tabuisiert, was sie nicht fassen kann: den Körper, das Mystische, den Wahnsinn, das Verbrechen, die Sexualität, die Glückseligkeit, die Frau, das Unbewusste, den Nicht-Sinn - Herrn Galli Matias, der im Manifest gefressen wird -, den Tod.

Die Devise der anthropophagen Vernunft hingegen lautet: „Transformation des Tabu in Totem“. Anstatt sich das Unbegreifliche und Fremde vom Leibe zu halten, wird es verschlungen, zu eigen gemacht. Anthropophagie verwahrt sich gegen Patriarchat und Autoritarismus, gegen das Gesetz des Vaters und das damit errichtete System des Tabus, nach Sigmund Freud die Bedingung aller Kultur.

Théodore de Bry, 1562: Kannibalismus in Brasilien

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Théodore de Bry, 1562: Kannibalismus in Brasilien

Oswald de Andrade schlachtet all die heiligen Kühe der westlichen Kultur: die Vernunft, das abstrakte, lineare Denken, Objektivität, Erinnerung. Die platonische Idee, die Abstraktion, ist nichts als „Lähmung“. Die anthropophage Vernunft weigert sich, „einen Geist ohne Körper zu denken“. Sie revoltiert gegen die großen Erzählungen der Eroberer, die durchkategorisierte, durchbuchstabierte Welt, die Grammatik, den Katechismus, die Sublimierungen der Europäer, deren „Storchenmoral“.

Anthropophagie ist die Bewegung gegen die Linearität, den Utilitarismus, den Positivismus mit seiner der brasilianischen Nationalflagge bis heute eingeschriebenen Devise „Ordnung und Fortschritt“. Die modernistischen Kannibalen setzen sich dem Unbekannten aus. Anstatt für Eroberung, die einem bestimmten Ziel unterworfenen Reise, plädieren sie für unaufhörliche Navigation. Die Koordinaten der anthropophagen Seefahrer sind das Mysterium, die Glückseligkeit, das Matriarchat, ihr Banner ist die Utopie.

Tupi or not Tupi?

Im Zuge der Machtergreifung von Getúlio Vargas 1930 findet die Bewegung der Anthropophagie ein jähes Ende. Ab den 1960ern, inmitten der langen Militärdiktatur, wird sie umso kraftvoller wiederauferstehen, im Umkreis von Bossa Nova, dem Cinema Novo, der Konkreten Poesie.

Quellen

Oswald de Andrade (2015) „Anthropophagisches Manifest“. Übersetzt von Maralde Meyer- Minnemann und Berthold Zilly. In: Isabel Exner und Gudrun Rath (Hg.): Lateinamerikanische Kulturtheorien. Grundlagentexte. Konstanz University Press; Oswald de Andrade (2016) „Anthropophages Manifest”. In: Manifeste. Portugiesisch–Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Oliver Precht. Wien: Turia+Kant.

Die Metaphorik der kritischen Einverleibung bzw. die kreative Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen wird nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der künstlerischen Produktion Brasiliens, sondern auch paradigmatisch für den Diskurs über Sprache, Literatur, Tradition und das Denken der Übersetzung.

Es scheint, als sei Brasilien das kannibalistische Prinzip, die produktive Einverleibung des Anderen, in Fleisch und Blut übergegangen. Vielfalt und Vermischung unterschiedlichster Kulturen, das war stets das eigentlich „Brasilianische“. Es bleibt zu hoffen, dass der brasilianische Kannibale, die Figur des Widerstands schlechthin, weiterhin unter der Flagge einer offenen, pluralen Gesellschaft, in Richtung Utopia segelt.

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