Warum Schwarze Löcher Haare haben

Vernichten Schwarze Löcher Information - obwohl das die Naturgesetze eigentlich verbieten? Der britische Physiker Malcolm J. Perry hat eine mögliche Lösung für das Problem gefunden. Sie lautet: „Schwarze Löcher haben weiche Haare.“

Als Malcolm J. Perry kürzlich in Wien einen Vortrag hielt, war der Festsaal der Akademie der Wissenschaften bestens gefüllt. Nicht nur, weil es in seiner Lecture um Schwarze Löcher ging, jene rätselhaften Hinterkammern der Raumzeit also, in denen Materie für alle Ewigkeit verschwindet. Sondern wohl auch, weil Perry einer der wichtigsten Vertrauten von Stephen Hawking war.

Die beiden habe über viele Jahre am gleichen Institut in Cambridge geforscht und gemeinsam eine Reihe von Arbeiten veröffentlicht, die letzte erschien im Oktober, ein halbes Jahr nach Hawkings Tod. Mithin eine gute Möglichkeit zu erfragen, wie denn der Wissenschaftspopstar Hawking im echten Leben so war. Ist es ihm mittlerweile langweilig, über seinen prominenten Kollegen Auskunft geben zu müssen? Perry quittiert die Frage mit einem Lächeln: „Kein Problem“, sagt er, „schießen Sie los.“

Der britische Physiker Malcolm J. Perry

ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Malcolm J. Perry

science.ORF.at: Gibt es einen Unterschied zwischen Stephen Hawking, dem Wissenschaftspopstar, und Stephen Hawking, so wie Sie ihn kennengelernt haben?

Malcolm J. Perry: Ich lernte Stephen 1974 kennen, als ich bei ihm zu studieren begann. Im Laufe der Jahre wurde er zunächst mein Doktorvater, dann mein Kollege und schlussendlich mein Freund. Ich denke, dass seine medialen Auftritte recht gut abbilden, wie er wirklich ist - besser gesagt: wie er wirklich war. Er hat einiges an Energie aufgewendet, um der Öffentlichkeit zu erklären, worum es in der Wissenschaft geht. Das ist bewundernswert. Er genoss die Aufmerksamkeit und er genoss jede Sekunde seiner Arbeit. Stephen hatte ein erfülltes Leben - trotz seiner Krankheit. Seine Behinderung hat zwar manches schwieriger gemacht, aber sie hat ihn niemals davon abgehalten, alles zu versuchen. Davon können wir alle etwas lernen.

Hawking konnte sich nur mit einem Sprach-Synthesizer mitteilen: Wie war die Kommunikation mit ihm?

Malcolm J. Perry: Auf den Synthesizer war er erst seit 1985 nach einer schweren Lungenentzündung angewiesen. In den Jahren davor war er zwar schwer zu verstehen, doch es war nicht unmöglich: Es gab eine Handvoll Leute, die ihn verstehen konnten - und das von ihm Gesagte dann übersetzten.

Und nach 1985?

Malcolm J. Perry: Zunächst steuerte er seinen Synthesizer mit seiner linken Hand. Später, als auch das nicht mehr möglich war, steuerte er ihn mit seinem Wangenmuskel. Das ging natürlich nicht besonders schnell, doch Stephen wurde sehr geschickt darin, viel Bedeutung in wenigen Worten zu verpacken. Wenn wir neben ihm saßen, starrten wir auf den Bildschirm seines Sprachcomputers, um herauszufinden, was er wohl als nächstes sagen würde. Und fast immer lagen wir falsch. Stephen sorgte gerne für Überraschungen.

Der britische Physiker Malcolm J. Perry beim Interview an der Akademie der Wissenschaften

ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Wollte man den Habitus des britischen Gelehrten näher bestimmen, Malcolm Perry wäre wohl ein guter Kandidat dafür: zerknitterte Hosen, wirres graues Haar, die Antworten mit einer Andeutung von Ironie. Wenn Perry über seine Forschungen spricht, dann tut er das ernsthaft und klar, sein Blick indes scheint zu sagen: Ich weiß zwar eine ganze Mange über die Physik Schwarzer Löcher - aber was weiß ich wirklich?

Tatsächlich sind Schwarze Löcher selbst für Spezialisten noch immer rätselhafte Gebilde. Das Problem geht auf eine Beobachtung von John Wheeler zurück: Der US-amerikanische Physiker stellte fest, dass alle Schwarzen Löcher mehr oder minder gleich sind. Sie können nur durch drei Größen - Masse, Rotationsgeschwindigkeit und Ladung - beschrieben werden. Von außen betrachtet sind sie also ziemlich simple Gebilde.

Womit auch gesagt ist: Über Materie, die in ihrem Inneren gefangen ist, geben sie keine Auskunft. „Schwarze Löcher haben keine Haare“, nannte Wheeler diese Tendenz zur Uniformität. Wie er zu diesem etwas seltsamen Vergleich kam, ist unbekannt. Das Bild jedenfalls verblieb in der Debatte, wenn Physiker vom „No-Hair-Theorem“ sprechen, dann meinen sie dies: „Ein Schwarzes Loch könnte aus einem alten Stern entstanden sein oder auch aus den Resten einer extraterrestrischen Zivilisation, es würde keinen Unterscheid machen“, so Perry.

Oder macht es doch einen Unterschied? Das legt zumindest das letzte Forschungspapier von Perry und Hawking nahe. Es trägt den Titel: „Black Hole Entropy and Soft Hair“.

Worum geht es in der Arbeit über „weiches Haar“?

Malcolm J. Perry: Andrew Strominger, Stephen und ich haben entdeckt, dass Schwarze Löcher doch Haare haben könnten - aber eben eine etwas andere Art von Haaren. Wir meinen damit „weiche“ Photonen oder Gravitonen, mit deren Hilfe man Schwarze Löcher voneinander unterscheiden könnte. Wir wissen noch nicht, ob uns diese Teilchen eine vollständige Beschreibung davon liefern, aus welchem Stoff ein Schwarzes Loch ursprünglich entstanden ist. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Immerhin rätselt die Physik an dieser Frage schon seit fast 60 Jahren.

„Weich“ heißt in diesem Zusammenhang was?

Malcolm J. Perry: „Weiches Haar“ benötigt keine Energie. Gravitationsstrahlung verändert die „weichen“ Ladungen der Raumzeit. Und diese Ladungen können auch bei Schwarzen Löchern auftreten, wie wir herausgefunden haben.

Strukturen ohne Energie, klingt das nicht ein wenig seltsam?

Malcolm J. Perry: Es ist ungewohnt, aber seltsam ist es nicht - zumindest nicht in der Quantenfeldtheorie des Elektromagnetismus und der Gravitation. Ich kann mich noch erinnern, als ich während meines Studiums Vorlesungen über Quantenfeldtheorie hörte, sagte ich einmal zu meinem Professor: „Was Sie eben gesagt haben, bedeutet im Klartext, dass es Photonen ohne Energie gibt - aber wir sollten das ignorieren.“ Und er antwortete: „Machen Sie sich keine Sorgen, es funktioniert.“ Doch es funktioniert eben nicht, man muss sich die Sache genauer ansehen. Das haben wir jetzt getan: Die Effekte, die an Schwarzen Löchern im Bereich niedrigster Energien auftreten können, wurden bisher ignoriert.

Schwarzes Loch saugt kosmische Materie ein

NASA/CXC/M.Weiss

Was passiert im Inneren von Schwarzen Löchern?

Das Problem der „weichen Haare“ - so speziell es auch erscheinen mag - ist eines, das an den Grundfesten der Physik rüttelt. Stephen Hawking entdeckt in den 70er-Jahren, dass Schwarze Löcher Strahlung abgeben können. Wenn das zutrifft, dann sollte ein Schwarzes Loch langsam „verdampfen“ - übrig bliebe in diesem Fall nichts als Strahlung ohne innere Ordnung, beziehungsweise: ohne Information. Und das darf eigentlich nicht sein.

„Man steckt Information in ein Schwarzes Loch, das Schwarze Loch verschwindet, und zum Schluss ist nur mehr irgendein unstrukturiertes Zeug da, jedenfalls keine Information mehr. Die Quantenmechanik verbietet solche Vorgänge“, sagt Perry. „Für uns stellt sich jetzt die Frage: Müssen wir die Quantentheorie verändern oder sind die Schwarzen Löcher ganz anders, als man sie sich bisher vorgestellt hat?“

Perry votiert für letzteres. Ob er Recht hat, könnten Experimente in Hanford und Livingston, USA, entscheiden. Dort stehen jene zwei Observatorien, mit deren Hilfe erstmals Gravitationswellen nachgewiesen wurden. Sollten sich in den Gravitationswellen Anzeichen „weicher“ Ladungen zeigen, wäre endlich eine Lösung in Sicht. Im „weichen Haar“ könnte nämlich jene Information stecken, die laut Naturgesetz nicht verschwinden darf.

Wäre es möglich, dass Schwarze Löcher nur ein theoretisches Konstrukt sind - aber nicht wirklich existieren?

Malcolm J. Perry: Nein, dafür haben wir zu viele experimentelle Belege: Da ist zum einen der Nachweis von Gravitationswellen kollidierender Schwarzer Löcher - ich kann mir nicht vorstellen, dass es für diesen Befund irgendeine andere Erklärung gäbe. Die Bewegungen von Sternen geben uns auch sehr gute Hinweise, dass es im Zentrum von Galaxien supermassive Schwarze Löcher gibt, das gilt auch für das Zentrum der Milchstraße. Und dann gibt es noch unzählige Messungen an Röntgenstrahlenquellen und Quasaren - auch das sind klare Belege dafür, dass Schwarze Löcher wirklich existieren.

Was geht im Inneren von Schwarzen Löchern vor sich?

Malcolm J. Perry: Im Inneren eines Schwarzen Loches befindet sich eine Singularität: Das heißt, dass die Krümmung der Raumzeit unendlich wird. Ob das eine echte Grenze der Raumzeit ist oder nicht, wissen wir noch nicht. Viele Leute sagen: Im Inneren der Schwarzen Löchern muss die Materie eine phantastisch hohe Dichte haben. Doch das stimmt nicht. Das supermassive Schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße hat zum Beispiel einen Durchmesser von einer Million Kilometern: Es ist nicht dichter als Wasser.

Robert Czepel, science.ORF.at

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