„Sufis tanzen nicht nur herum“

Sufis gelten im Westen oft als friedliebende, tanzende und zur Esoterik neigende Muslime. Dass dieses Bild zu kurz greift, zeigt die Studie eines Islamforschers, der Sufis von Albanien bis Usbekistan miteinander verglichen hat.

Der Islam- und Politikwissenschaftler Yunus Hentschel, Junior Fellow am IFK in Wien, schreibt gerade seine Dissertation über „Sufische Zugänge zum Koran in der Gegenwart“.

„Sufis sind die Mystiker und Mystikerinnen des Islams. Sie haben verschiedene Meditationsformen entwickelt, um eine göttliche, absolute Realität unmittelbar zu erfahren“, erklärt Hentschel gegenüber science.ORF.at. Der Koran spielt dabei eine zentrale Rolle, auch wenn die Auslegung sehr unterschiedlich sein kann.

Sufis im Irak

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Sufis im Irak

„Wohin du blickst, siehst du das Antlitz Gottes“

Um zu untersuchen, wie und ob sie sich unterscheiden, hat Hentschel in den vergangenen Jahren 14 Sufis – Männer wie Frauen – in Usbekistan, Marokko, Türkei, Israel/Palästina, Deutschland, Pakistan, Iran und Albanien befragt. „Oft waren dabei Musik und Bewegung wichtige Elemente, um Zugang zur göttlichen Realität zu finden.“

Das prominenteste Beispiel dafür ist der Drehtanz, bekannt als der „Tanz der drehenden Derwische“. Der Tanz übersetzt den Koranvers „Überall, wohin du blickst, dort siehst du das Antlitz Gottes“ performativ. Die Sufis drehen sich im Kreis, und dieses Drehen symbolisiert zum einen den Blick auf die Welt und den Versuch, auch hinter ihre Erscheinungen zu blicken. „Zum anderen kreist man auch um die eigene Achse, und das symbolisiert, wie viele Sufis betonen, die Verbindung von Äußerem und Innerem, von Umwelt und Selbst“, so Hentschel.

Nicht am Wortlaut des Korans kleben bleiben

Der Großteil der anderen Muslime versteht diesen Koranvers nicht unbedingt als Aufforderung zum Tanz. „Die sufische Interpretation des Korans ist der Versuch, über den äußeren Wortlaut hinauszugehen. Sie verwirft ihn zwar nicht, erweitert ihn aber um innere Bedeutungsformen“, sagt der Islamwissenschaftler.

Yunus Hentschel mit dem ägyptischen Sufi Shaykh bei einer Sufi-Konferenz in Marokko

Yunus Hentschel

Yunus Hentschel mit einem ägyptischen Sufi bei einer Konferenz in Marokko

Den Koran zu lesen bedeute für Sufis nicht einfach „Buch aufschlagen und lesen“, sondern sei auch ein persönlicher Entwicklungsprozess. „Ein Sufi, der den Drehtanz praktiziert hat, meinte: Man liest einen Koranabschnitt in einem Jahr so, und im nächsten Jahr ganz anders. Nur an einem wörtlichen Verständnis kleben zu bleiben, wird als Gefahr gesehen.“

Damit stehen die Sufis aber nicht automatisch im Gegensatz zu den im Westen als „Fundis“ bekannten Salafisten. Letztere betonen zwar die Rückbesinnung auf die Frühphase des Islams und die Abgrenzung von anderen Gruppierungen, aber diese Tendenzen gibt es auch bei manchen Sufis. Darüber hinaus waren Sufis historisch an Waffengängen beteiligt – wenn man etwa an die Janitscharen in der Zeit des Osmanischen Reichs denkt – und sind das zum Teil auch in der Gegenwart. Wobei sie dabei oft als Kritiker politischer Regime wahrgenommen werden und nicht als Häretiker.

Sufi-Musiklehrer lehrt seine Schülerinnen in Srinagar im indischen Bundesstaat Kaschmir

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Sufi-Musiklehrer lehrt seine Schülerinnen in Srinagar im indischen Bundesstaat Kaschmir

Dschihad bedeutet die Bemühung um das Selbst

„Sufis sind nicht nur friedliebend und tanzen auch nicht nur herum“, fasst es Hentschel zusammen. Auf seinen Reisen hat er auch durchaus politisch engagierte Sufis getroffen, die sich auch wehrhaft zeigen konnten. Ein Sufi in Usbekistan verwendete etwa Kampfkunst als Teil seiner meditativen Praxis. Generell werde der „hierzulande verzerrt als heiliger Krieg bezeichnete dschihad“ aber als Bemühung ums Selbst ausgelegt, tatsächlich gewaltvolle Akte würden abgelehnt. „Koranverse, die Gewalt reflektieren, bedeuten für sie nicht, dass man jemand anderen töten soll, sondern dass man gegen eigene negative Eigenschaften kämpft – was nicht ausschließt, dass sie zur Selbstverteidigung auch kämpfen würden.“

Generell seien Sufis gegenüber anderen Religionen und Nicht-Religionen sehr offen. „Sie streben eine umfassend erfahrende Erkenntnis einer absoluten Wahrheit an. Dabei verurteilen sie die Vielzahl an Wahrheiten nicht als unwichtig oder bedeutungslos, sondern verstehen sie als vorläufig und weisen auf dahinterliegende Wahrheiten hin.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

Veranstaltungshinweis

Am 10.12. hält Yunus Hentschel den Vortrag: “Die Zeichen an fernen Horizonten und im innersten Selbst“. Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

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