Hypertext-Pionier nun im Hypertext

Andreas Okopenko hat zu den stillsten und gleichzeitig innovativsten Lyrikern des Landes gezählt. Eine neue digitale Edition seiner frühen Tagebücher trägt nun seiner Rolle als Hypertext-Pionier Rechnung, wie der Germanist Christian Zolles in einem Gastbeitrag schreibt.

Hört man sich um, so ist der Name Okopenko vor allem noch mit den Humanic-Werbespots der 1970er und 1980er Jahre verknüpft. Lange vor Hornbach haben sie aufgezeigt, dass sich Kunst und Kommerz in seltenen Fällen durchaus fröhlich die Hand geben können. Das Sujet ist in bester Erinnerung geblieben, und Autoren wie H.C. Artmann, Gerhard Rühm, Wolfgang Bauer oder eben Andreas Okopenko konnten mit ihren Gedichten eine breite Öffentlichkeit erreichen und mit Versen irritieren wie: „krokodile / in den pfötchen / jung die gebetchen / an die noch flüssigen monde“.

Über den Autor:

Christian Zolles ist Literatur- und Kulturhistoriker am Institut für Germanistik der Universität Wien und forscht u. a. zur Kulturgeschichte der Apokalypse und zu den sozialpolitischen Dimensionen von Dichtung

Eines der unerklärbaren Phänomene des Marktes ist es, dass populäre Konzepte wie dieses keine Schule gemacht haben. Verwunderlicher noch ist, dass derartige Projekte noch heute, nach dem scheinbar liberalen digitalen Medienwandel, als ähnlich radikal und provokativ empfunden würden wie damals. Zumindest ist das die Ansicht von Horst Gerhard Haberl, dem Kopf hinter der ehemaligen Humanic-Kampagne, und es spricht so einiges dafür.

Screenshot der Okopenko-Edition

ÖNB

Screenshot der Okopenko-Edition

Das würde aber auch bedeuten, dass Dichtung und Sprachspiel noch nach der Blütezeit der Avantgarden ein gewisses aufrührerisches und aufklärerisches Potenzial behalten haben. Man stelle sich etwa vor, die Verfahren der experimentellen Künste zu nutzen, um so manche öffentliche Debatte vom Inhaltlichen auf das Formale zu bringen und der Frage weniger nach dem Was als nach dem Wie der öffentlichen Kommunikation und Meinungsbildung wieder mehr Raum zu geben. Das Feld der Politik möchte davon traditionell nichts wissen.

Edition (Beta-Version):

Ein Blick zurück zu den Anfängen der progressiven Dichtung in Österreich kann helfen, die Tiefe dieses Konflikts und womöglich seine Aktualität besser zu verstehen. Als Einstieg bietet sich an, in den frühen Tagebüchern Okopenkos zu blättern, die nun als Ergebnis eines dreijährigen FWF-Projektes, das vom Institut für Germanistik der Universität Wien und dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek durchgeführt wurde, digital aufbereitet und frei zugänglich vorliegen.

Porträt-Okopenko vom 14. April 1953

August Bisinger

Porträt-Okopenko vom 14. April 1953

Anfänge der Progressivliteratur in Österreich

Man muss sich nicht eingehender mit Zeitgeschichte oder den Arbeiten des Linguisten Victor Klemperer beschäftigt haben, um sich vorstellen zu können, wie es nach 1945 mit dem Sprachgebrauch im Land bestellt war. Gegen die autoritäre Stimmung suchte eine junge Generation von Schriftstellern und Schriftstellerinnen nach neuen Ausdrucksformen und fand diese im Fundus des Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus und magischen Realismus – bei internationalen Kunstströmungen, die im Faschismus als „entartet“ gegolten hatten und in Österreich zum Großteil erst jetzt entdeckt werden konnten. Wie ein von Okopenko zitierter US-amerikanischer Reporter 1947 schrieb: „A surrealist in Vienna must feel as lonely as an Eskimo in Darkest Africa, for in this city, probably more than in other capital in Europe, art is conventional to a picture postcard degree.“

Die progressiven Dichter und Dichterinnen fanden in der Kulturzeitschrift „Neue Wege“ eine der wenigen Publikationsmöglichkeiten. Der knapp zwanzigjährige Okopenko zählte ab 1949 zu den engagierten Mitgliedern des literarischen Arbeitskreises der Zeitschrift. Da diese als Mitteilungsblatt vom Theater der Jugend herausgegeben wurde, fand sie vor allem an den Schulen Absatz, was Autoren und Autorinnen wie H.C. Artmann, Wieland Schmied oder Jeannie Ebner schlagartig ein breites Publikum einbrachte. Die Reaktion auf die experimentellen Texte war zu erwarten: Der Gegenwind vor allem von Lehrern und Eltern führte rasch zum Ruf nach sprachlicher Mäßigung. Zusammen mit inneren Kontroversen sorgte das dafür, dass Okopenko den Arbeitskreis nach zwei Jahren enttäuscht verließ.

Abschrift eines Briefes vom 22./24. November 1950 über die Ausrichtung der "Neuen Wege"

Literaturarchiv der ÖNB

Abschrift eines Briefes vom 22./24. November 1950 über die Ausrichtung der „Neuen Wege“

Noch ein zweites Mal versuchte er sich an einer revolutionären Herausgabe, und zwar der „publikationen einer wiener gruppe junger autoren“. Werke von Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Gerhard Fritsch oder Hertha Kräftner wurden veröffentlicht. Okopenko sollte die „publikationen“ nachträglich beschreiben als die „einzige oder letzte Avantgardezeitschrift Nachkriegsösterreichs, die die Illusion hegte, mit ein paar Gedichten und einer Handvoll Mitarbeitern die Welt zu verändern.“ Ein radikaler Neubeginn über sprachliche Subversion musste freilich Utopie bleiben.

„Fluidum“ und „Konkretionismus“

Tief desillusioniert verfiel Okopenko in eine lang andauernde Schreibkrise, kehrte dem Literaturbetrieb den Rücken und vernichtete zahlreiche eigene Gedichte. Erst 1968 sollte er sich dazu entschließen, die Arbeit als Betriebsabrechner für eine oberösterreichische Papierfabrik an den Nagel zu hängen und vom Schreiben zu leben. Während die „Wiener Gruppe“ und andere frühere Weggefährten literarische Karriere machten, wurde er fortan eher als Außenseiter und Beobachter der literarischen Landschaft wahrgenommen, bestens vernetzt allerdings und mit großem Respekt betrachtet.

Veranstaltung:

Präsentation der Edition am 15. Jänner 2019 um 19 Uhr in der Fachbereichsbibliothek Germanistik der Universität Wien, Universitätsring 1, 1010 Wien (in Kooperation mit dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

Unbeirrbar verfeinerte er nun auch in experimentellen Romanen seine eigenständigen poetologischen Konzepte von „Fluidum“ und „Konkretionismus“. Entgegen der strikten Sprachkritik vieler seiner „konkreten“ Zeitgenossen hielt er dabei an einem Realismus fest, den er unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle zu entdecken und im Beziehungsvermögen aller Dinge aufzuzeigen versuchte.

Dieses Schreibverfahren nötigte Okopenko eine Schwerarbeit an seinen Texten ab, in die er Schlagzeilen und Slogans ebenso einbezog wie biographische Elemente. Bestes Beispiel dafür ist der Kindernazi von 1984, in dem er ausgehend von historischen Zeitungs- und eigenen Tagebuchberichten chronologisch rücklaufend die Kriegsbegeisterung eines Pimpfs rekonstruierte – als Warnung vor einem Dritten Weltkrieg, den Okopenko neben einem Atomkrieg fast sein Leben lang nahen sah. Surrealistische Zeitkritik blieb in seinen größeren wie kleineren Formen stets wesentliches Prinzip.

YouTube-Video: Worried Men Skiffle Group: „Anarchistenwalzer“ (Text: Andreas Okopenko und Gerhard Richter)

Hypertext-Pionier

Die poetische Experimentierfreude brachte Okopenko dazu – und das ist neben dem Ausflug in die Werbewelt sein zweites bekanntes Etikett –, zu einem der literarischen Vorreiter des Hypertextes zu werden. In seinem Lexikon-Roman von 1970 hat er bereits zahlreiche Verfahren vorweggenommen, die Jahrzehnte später die digitale Textkommunikation auszeichnen sollten: die Arbeit mit Textbausteinen (Modulen), mit verschiedenen Verweisstrukturen (Links), mit dem Einbezug und der Aktivierung der Leser und Leserinnen (User) und dem möglichen Einschlagen individueller Lektürepfade (Pathways).

Dass der Lexikon-Roman im Grunde schon der HTML-Logik von Webseiten folgt, beweist die spätere Adaption des Buches in elektronischer Form. Der „Der Elektronische Lexikon-Roman“ (ELEX), eine von Okopenkos Stimme geleitete interaktive Text-, Grafik- und Fotogalerie, wurde in Zusammenarbeit mit dem Mediendesigner- und Künstlerkollektiv Libraries of the Mind umgesetzt.

Während der Buchroman sich noch durch das analoge Medium beschränkt sah, konnte man jetzt bereits auf die vormals ungeahnte Speicherkapazität der CD-ROM zurückgreifen, um sich einem offenen, immer im Fluss begriffenem Weltbild anzunähern. Mit der Ausbreitung des Internet ist die Sensation der Navigation in riesigen, multimedialen Datenmengen natürlich längst Gewohnheit geworden. Weniger staatliche Autorität als marktwirtschaftlich dominierte Algorithmizität ist es hingegen heute, das einem „fluidischen“ und „konkretionistischen“ Denken entgegensteht.

Mit seinen Gedichten und Verfahren hat Okopenko selbst spätere Generationen an Autoren und Autorinnen beeinflusst. Für sein Lebenswerk wurde er 1998 mit dem Österreichischen Staatspreis und 2002 mit dem Georg-Trakl-Preis für Lyrik ausgezeichnet. Es scheint recht an der Zeit, seine Werke wieder hervorzuholen. Die Edition seiner Tagebücher über die Anfänge progressiver Literatur in einem sprachlich verhärmten Nachkriegsösterreich bietet hierfür einen hervorragenden Anlass.

Ausschnitt aus Okopenko-Lesung anlässlich der Georg-Trakl-Preisverleihung im Februar 2002:

Zum Editionsprojekt

Gerne hätte Okopenko auch seine zeit seines Lebens akribisch geführten Tagebücher elektronisch verwertet gesehen. Er stellte sich ein Hinein- und Hinauszoomen zwischen verschiedenen Einträgen, Auszügen und Listen vor, angereichert mit hinzugefügten Materialien wie Bildern, Postkarten oder Briefen. Zumindest partiell, für die spannende Frühphase der österreichischen Avantgarde 1949 bis 1954, konnte dieser Plan nun verwirklicht werden.

Ö1-Sendungshinweis

Diesem Thema widmet sich auch ein Beitrag in „Wissen aktuell“ am 17.12. um 13:55 Uhr.

In den vergangenen drei Jahren hat ein vom nationalen Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Forschungsprojekt des Instituts für Germanistik der Universität Wien und dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek an Okopenkos Nachlass gearbeitet. Nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch technisch stand das Projekt vor neuen Herausforderungen, welche der jüngst entstandene Forschungszweig der Digital Humanities mit sich bringt: die Frage nach dem verlässlichen Speicherort (Repositorium), nach dem geeigneten Codeschema (TEI-XML) oder nach der passenden Auszeichnung (Annotation). Einfach gesagt geht es darum, Faksimiles und Daten langzeitgesichert, maschinenlesbar und benutzerfreundlich aufzubereiten.

Tagebucheintrag vom Februar 1950, symptomatisch für die verschiedenen Textebenen (li.), XML-Auszeichnung des Tagebucheintrags (re.)

Literaturarchiv der ÖNB

Tagebucheintrag vom Februar 1950, symptomatisch für die verschiedenen Textebenen (li.), XML-Version des Tagebucheintrags (re.)

Das Projektteam hat in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Forschung und Entwicklung der ÖNB dafür gesorgt, dass die Tagebücher aus dem Nachlass von Andreas Okopenko nun in einer ersten Beta-Version open access vorliegen. Abrufbar sind sowohl die Faksimiles als auch die Transkriptionen und die zugrunde liegende Codierung. Einzelne Themenpfade erleichtern den Einstieg.

Dem Pilotprojekt für die neu geschaffene Infrastruktur für digitale Editionen der ÖNB werden bald weitere Ergebnisse folgen. Demnächst wird eine digitale Edition des Bibliothekskatalogs von Hugo Blotius, dem ersten offiziellen kaiserlichen Hofbibliothekar der Wiener Hofbibliothek, aus dem Jahr 1576 online gehen. Dieses Service soll den Gang in die Bibliothek oder das Archiv allerdings nicht ersetzen, sondern Lust auf mehr Geschichte machen.

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