Woran wir uns am längsten erinnern

Katastrophen, Rekorde und Hitparaden - Rückblicke prägen die letzten Tage des Jahres. Was davon wird uns tatsächlich in Erinnerung bleiben? Was ist bald wieder vergessen? Eine mathematische Formel soll den Verlust der kollektiven Erinnerung beschreiben.

Was wird von 2018 bleiben? Wer wird sich in ein paar Jahren noch an die Ermordung von Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul erinnern? Für das US-amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ war der regierungskritische saudi-arabische Journalist eine der Personen des Jahres. Viele werden vielleicht doch eher die Bilder der britischen Traumhochzeit zwischen Prinz Harry und der US-Schauspielerin Meghan Markle im Kopf behalten. Oder Ariana Grandes „Thank u, next“? Immerhin hatte das Video zum Song schon in den ersten 24 Stunden nach der Veröffentlichung auf YouTube 50 Millionen Klicks. Vom US-Musikbranchenblatt Billboard wurde der US-Popstar außerdem zur „Frau des Jahres“ gekürt.

Ariana Grande beim Billboard-Event "Women in Music"

Angela Weiss / AFP

Ariana Grande beim Billboard-Event „Women in Music“ 2018

Dass Frankreich im Finale der Fußballweltmeisterschaft in Russland 4:2 gegen Kroatien gewonnen hat, werden sich die Fans sicher bis zum nächsten Großereignis merken. Von allen Ereignissen, Menschen und Werken des Jahres wird aber voraussichtlich nur ein geringer Teil im kollektiven Gedächtnis bleiben; das meiste wird langsam, aber sicher dem Vergessen anheimfallen.

Kurve des Vergessens

Dieser Verlust an Aufmerksamkeit folge einem bestimmten Muster, meinen nun die Forscher um Cristian Candia vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Eine Textzeile aus einem der berühmtesten Gedichte (Poema 20) des chilenischen Dichters Pablo Neruda bringe es auf den Punkt: „So kurz dauert die Liebe und so lang das Vergessen.“

Was für die Liebe gilt, trifft in gewisser Weise auch auf die Erinnerung von uns allen zu, schreiben die Forscher in ihrer Studie: Am Anfang steht eine meist recht kurze Phase der maximalen Aufmerksamkeit, die dann allmählich wieder abebbt. Warum bestimmte Ereignisse, einzelne Menschen oder Werke zu Beginn viel Beachtung finden, hänge von oft schwer quantifizierbaren Faktoren ab: Vorlieben, Moden oder Gefühlen. Das, was danach passiert, lasse sich aber berechnen, so Candia und Kollegen.

Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle

APA/AFP/POOL/Jane Barlow

Erinnerungen 2018: Royale Hochzeit

Die Grundlage ihrer mathematischen Formel bildet das kulturwissenschaftliche Konzept des kollektiven Gedächtnisses, das der französische Philosoph Maurice Halbwachs schon in den 1920er Jahren erstmals eingeführt hat. Weiterentwickelt wurde die Idee vom deutschen Forscherpaar Jan Assmann und Aleida Assmann. Demnach besteht die kollektive Erinnerung aus zwei maßgeblichen Teilen: aus einem kommunikativen und einem kulturellen. Der erste beschreibt die direkte, oft mündliche Weitergabe von Informationen und ist sehr kurzlebig; der zweite die Weitergabe in Form von Artefakten - so festgehaltene Erinnerungen verschwinden meist langsamer. Kollektives Vergessen sei ein Wechselspiel zwischen beiden Teilen, so die These der Forscher. Die entsprechende mathematische Funktion hat einen biexponentiellen Verlauf.

Popsongs sind schnell vergessen

Die Gültigkeit der Formel des Vergessens hat das Team an wissenschaftlichen Publikationen, Patenten, Popsongs, Filmen und Biografien von berühmten Sportlern überprüft. Die kollektive Erinnerung wurde indirekt erfasst, etwa in Form von Zitationen bei den Publikationen. Für Filme und Personen wurden Suchanfragen auf Google oder Wikipedia als digitales Aufmerksamkeitsmaß verwendet. Darin spiegle sich, worüber gerade viel gesprochen wird. Für Filme und Popsongs wurden zudem die Klicks und Nennungen, die ihnen auf bekannten Plattformen - wie z. B. auf YouTube, in den Billboard-Charts oder auf Spotify - relativ zu ihrem Erscheinungsdatum zuteil wird, berechnet.

Die Studie

„The universal decay of collective memory and attention“, Nature Human Behaviour, 10.12.2018

Tatsächlich zeigte sich, dass der Verlust an Aufmerksamkeit rein mathematisch betrachtet überall einen ähnlichen Verlauf nimmt, aber nicht in allen Bereichen gleich schnell stattfindet. Am schnellsten vergessen wir Popsongs, etwas länger bleiben Filme im Gedächtnis, in fünf bis zehn Jahren sind beide in der Regel komplett vergessen. Am längsten erinnern wir uns laut den Berechnungen an berühmte Persönlichkeiten, im Schnitt 15 bis 30 Jahre.

Nutzen der Erinnerung

Natürlich zeige die Formel ein vereinfachtes Bild der kollektiven Erinnerung. Auch qualitative Aussagen - etwa warum manche Lieder oder Filme länger im Kopf bleiben als andere - lässt das Modell nicht zu. Aber zumindest der Verlauf der Vergessenskurve ist universell - davon sind die Studienautoren überzeugt. Der Big-Data-Ansatz zum kollektiven Gedächtnis sei zwar sehr vielversprechend, schreibt hingegen Alin Coman von der Princeton University in einem Begleitkommentar, seine Allgemeingültigkeit aber zweifelhaft.

Der französische Spielmacher Antoine Griezmann nach dem Sieg über Kroatien im Finale der Fußballweltmeisterschaft 2018

GABRIEL BOUYS / AFP

Der französische Stürmer Antoine Griezmann nach dem Sieg über Kroatien im Finale der Fußballweltmeisterschaft 2018

Was für kulturelle Artefakte gilt, müsse beispielsweise nicht unbedingt auf historische Ereignisse zutreffen. Erinnerungen an diese folgen vermutlich eher einem zyklischen Muster bzw. einer Wellenform: An jedem Gedenktag landen sie zumindest kurzfristig wieder im Fokus der Aufmerksamkeit. Solche Abweichungen ließen sich laut Coman möglicherweise ins allgemeine Modell einarbeiten.

Er sieht in der Arbeit aber auch praktische Implikationen: Lässt sich die Phase der kollektiven Aufmerksamkeit ausdehnen? Der Punkt, an dem die Kurve steil abfällt, hinauszögern? Bei manchen Ereignissen wäre eine anhaltende Erinnerung nämlich sehr wünschenswert, schreibt Coman. Als Beispiel nennt er den Hurrikan „Sandy“, der 2012 an der US-amerikanischen Ostküste verheerende Schäden anrichtete. Viele Bewohner gelangten damals zur Überzeugung, dass an der Klimaerwärmung doch etwas dran sein könnte. Allerdings nur so lange, bis der Wirbelsturm und seine Folgen wieder vergessen waren.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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