Umarmung eines Double Bind

Gesellschaftliche Ausgrenzung und Verfolgung einerseits sowie Integration und Aufstieg andererseits – beides findet sich paradigmatisch in der Geschichte der Jüdinnen und Juden in Wien um 1900 wieder. Das prägte die Menschen und die Stadt entscheidend – bis heute.

Diese Geschichte ist in vielerlei Hinsicht ein Paradebeispiel: Dafür, wie vielschichtig und komplex, folgenreich und bereichernd eine Öffnung der Gesellschaft, eine Integration und damit einhergehende neue Selbstdefinition einer als fremd und am Rande der Gesellschaft stehend definierten Gruppe sein kann.

Was das für die Betroffenen bedeutete, wie es ihre Identität beeinflusste - und sie die Identität anderer mitprägten, zeigt aktuell der von der Kultur- und Designhistorikerin Elana Shapira herausgegebene Sammelband „Design Dialog. Juden, Kultur und Wiener Moderne“ auf. Der Band ist das Folgeprojekt eines Internationalen Symposiums zum Thema, das 2016 im Österreichischen Museum für angewandte Kunst (MAK) in Wien stattfand. Es versammelt die Beiträge von Expertinnen und Experten aus vielen Fachbereichen, etwa von Markus Kristan, Ursula Prokop, Christopher Long, Lisa Silverman, Leslie Topp, Claudia Cavallar, Werner Hanak, Sebastian Hackenschmidt und Steven Beller.

Aufbruch als Chance und Gefahr

In insgesamt 23 Beiträgen wird „die entscheidende Rolle jüdischer Mäzene, Architekten, Designer und Schriftsteller bei der Gestaltung der modernen Wiener Architektur, Designs und Kunst erforscht“, betont Shapira. Diese Player schufen dabei eine neue Sprache und kulturelle Netzwerke; sie beteiligten sich an gesellschaftlichen Debatten und trugen so entscheidend zur kulturellen Neuerfindung Wiens bei. Der Antisemitismus, die Bedrohung, die von ihm ausging und die Frage, wie Juden in der sich modernisierenden österreichischen Gesellschaft damit umgingen, sind dabei unausweichlich ebenfalls Thema.

In den Aufsätzen, die einen Zeitrahmen von 1800 bis 1938 abdecken, werden der kulturelle Austausch zwischen Juden und Nichtjuden ebenso untersucht wie jüdische Selbstidentitäten und mediale Zuschreibungen, was „jüdisch“ sei. Es wird erkennbar, dass Juden in Wien nie eine Einheit waren, sondern es viele Unterschiede gab. Damit werde auch die „Projektion von ‚den Juden‘ als dem fixen, monolithischen, stereotypen Anderen“ als Instrument der Ausgrenzung, die schließlich zur Verfolgung und Vernichtung führte, entlarvt.

Ausschnitt aus Klimts "Adele"

AP

Ausschnitt aus Klimts „Adele“

Neue Identitäten, in Stein gespiegelt

Juden waren führende Mäzene, die das historistische Bild der Stadt - insbesondere das Aussehen der Ringstraße - mitprägten. Andere - Mäzene wie Künstlerinnen und Künstler - waren aber auch entscheidend am Entwickeln der Wiener Moderne beteiligt. Die involvierten Personen dachten dabei oft über ihre jüdische Identität und ihre Rolle in der österreichischen Gesellschaft nach und brachten das im Design ganz bewusst zum Ausdruck.

Dem nach 1918 zunehmend nationalistischen und antisemitischen Klima versuchten jüdische Schriftstellerinnen und Geschäftsleute in der Öffentlichkeit teils mit einer progressiven Agenda entgegenzuwirken. Prominente Kunden heuerten bewusst jüdische Architekten und ließen sich von diesen moderne Villen entwerfen: Julie und Jakob Wassermann beauftragten Oskar Strnad, der Schuhfabrikant Julius Beer Josef Frank, die Tochter des Industriellen Karl Wittgenstein, Margaret Stonborough-Wittgenstein Paul Engelmann und ihren Bruder Ludwig. Architektonisch kam die Moderne so auch vom Zentrum in die äußeren Bezirke.

Ebenso waren Juden an den Sozialbau- und Kulturprojekten des „roten Wien“ der Zwischenkriegszeit beteiligt.

Antike als Ausweg aus Ghettoisierung

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden Juden stets als Fremde gesehen, auch wenn sie seit Jahrhunderten - von Vertreibungen unterbrochen - hier lebten. Das war kulturell dem stets ambivalenten christlichen Verhältnis zum Judentum geschuldet, das „die Juden“ zu „ewigen Jesusmördern“ stempelte und damit zu einer permanenten ritualisierten Bedrohung. In der Öffentlichkeit setzte sich die seit der Antike geübte Hassrhetorik gegenüber Juden fort. Zugleich wurde das klassisch-hellenistische Erbe aber im 19. Jahrhundert auch zu jener gemeinsamen Plattform, um mit liberalen Christen ins Gespräch und in Kontakt zu kommen. Der Rückgriff auf dieses Erbe erlaubte es in Wien, eine neue, inklusivere kulturelle Sprache zu schaffen, in die ganz bewusst auch Spezifika der jüdischen Tradition eingebaut und durch sie ausgedrückt wurden.

Die Synagoge Eitelbergergasse, der sogenannten Hietzinger Tempel, wurde nur sieben Jahre nach der Fertigstellung im Zuge des Novemberpogrom 1938 zerstört.

Österreichische Nationalbibliothek

Die Synagoge Eitelbergergasse, der Hietzinger Tempel, wurde nur sieben Jahre nach der Fertigstellung im Zuge des Novemberpogroms 1938 zerstört

Keine Aufgabe der jüdischen Identität

In weiterer Folge kam es zu einem Rückbezug auch auf den Orient: Sowohl Synagogenbauten um die Jahrhundertwende, die maurische Elemente unter Bezug auf die sephardische Tradition übernahmen, als auch der moderne internationale Stil (Stichwort: Flachdächer) wurden in diesem Zusammenhang gesehen. In dieser selbstbewussten Positionierung als schaffende wienerische Juden waren Architekten wie Josef Frank und Richard Neutra exemplarische Beispiele, betont Shapira: „Als Wiener produzierten sie innerhalb breiterer europäischer und globaler kultureller Sprachen, bewahrten dabei aber ein ethnisches Bewusstsein oder eine Selbstwahrnehmung als Juden“.

Eine wichtige, alle Beiträge einende These ist, dass die Identität als Jüdin oder Jude für die Akteurinnen und Akteure der entstehenden Wiener Moderne - anders als in manchen Kunstkatalogen behauptet - sehr wohl eine Rolle spielte. Gerade Jüdinnen waren mit zwei gegensätzlichen Stereotypen konfrontiert: Jenem der „hässlichen“ und jenem der „schönen“ und exotisch oder gefährlich verführerischen Frau. Diese Vorurteile versuchten jüdische Künstlerinnen aktiv zu unterlaufen, wie etwa die Keramikerin Vally Wieselthier, die mit ihrer Serie „Frauenköpfe“ gegen das von Sezessionisten geprägte Stereotyp der „schönen Jüdin“ auftrat. Auch die Autorin Annemarie Selinko und die Grafikerin Lisl Weil versuchten im Zuge einer Kooperation für eine Modezeitschrift, den gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich ihres Aussehens und ihres Verhaltens entgegenzuwirken.

Wieselthier mit einer ihrer Keramiken

Deutsche Kunst und Dekoration 3/1929

Wieselthier mit einer ihrer Keramiken

Markus Kristan, Kurator an der Albertina, beschreibt die Rolle des Architekten und Zionisten Oskar Marmorek als wichtiger Exponent der jüdischen Renaissance und nimmt den Dualismus zwischen Assimilation und Selbstbehauptung in seinen Bauten und Schriften in den Blick.

Herzls Bart als Identität

In Bezug auf „konstruierte Identitäten“ spannend zu lesen ist insbesondere der Beitrag des US-Historikers Steven Beller. Er spannt einen Bogen vom orientalischen Stil in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - etwa der während des Novemberpogroms 1938 von Nazis zerstörte Leopoldstädter Tempel - bis zum internationalen Stil von Adolf Loos und Josef Frank. Der maurische Stil diente dazu, der doppelten Erwartung gerecht zu werden: jener, sich zu assimilieren und jener, eine eigene Identität zu haben. Dass der Begründer des Zionismus, Theodor Herzl, einen „assyrischen Bart“ trug, war laut Beller ein bewusster Akt und ein Zeichen einer eigenen nationalen jüdischen Identität.

Werner Hanak, Vizedirektor des Jüdischen Museums in Frankfurt, schreibt darüber, wie der einflussreiche Autor und Literaturkritiker Hermann Bahr Herzl „exotisiert“ und damit die Identität der Juden als Europäer infrage stellt.

Besucher im Leopoldstädter Tempel: Die Synagoge war im damals beliebten maurischen Stil gehalten, die Besucher dagegen ganz zeitgenössisch modern.

Bild von Emil Ranzenhofer, Österreichische Nationalbibliothek

Besucher im Leopoldstädter Tempel: Die Synagoge war im damals beliebten maurischen Stil gehalten, die Besucher dagegen ganz zeitgenössisch modern

Von Paris nach Wien

Laut Beller verband sich der Orientalismus mit der zur Jahrhundertwende besonders beliebten Vorliebe für Japan und war dadurch nicht nur historistisch. Führend am Transfer des Japonismus von Paris nach Wien war der Kontakt Berta Zuckerkandls und ihrer Familie zu dem Journalisten und späteren französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau. In Edmund de Waals Bestseller „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, der Geschichte und Untergang der wohlhabenden Ephrussi-Familie nachzeichnet, nimmt dieser Kulturtransfer ebenfalls einen zentralen Platz ein: Die Ephrussis brachten ihre Sammlung japanischer Netsuke - kleine geschnitzte Figuren, die man am Kimono trug - damals von Paris nach Wien.

Double Bind als Lebensmodus

Adolf Loos wollte, so Beller, Juden wie Nichtjuden die Möglichkeit geben, durch das Weglassen jeglicher äußerer Ornamente, anonym zu bleiben. So wie die anderen „Inklusionsversuche“ sei aber auch dieser teils auf Widerstand gestoßen und der internationale Stil als „palästinensisch“ abgewertet worden. Für Beller also ein „klassischer Double Bind“: Beide „Bewegungen, das orientalische Ornament und das ‚kein Ornament‘ wurden als Ausdrücke eines ‚jüdischen‘ Partikularismus gesehen“. Allerdings hätten das nicht alle negativ gesehen. Viele Juden hätten diesen Double Bind „als ihren bevorzugten westlichen, bürgerlichen und modernen Modus der Selbstidentifizierung umarmt“.

Das von Josef Frank und Oskar Wlach gestaltete Wohnzimmer in der Wohnung Anna Weiss  in Wien

Zeitschrift Innen-Dekoration 1934/10

Das von Josef Frank und Oskar Wlach gestaltete Wohnzimmer in der Wohnung Anna Weiss’ in Wien

Als Beispiel nennt Beller Josef Franks Stil der Inneneinrichtung. Indem dieser verschiedenste Stile mixte, habe er eine pragmatische, kosmopolitische und pluralistische Einstellung angeboten. Das habe nicht nur seine liberalen jüdischen Kunden angesprochen, „sondern spricht auch uns bis heute an“.

Die Architektin Claudia Cavallar und MAK-Kurator Sebastian Hackenschmidt beschreiben die Netzwerke von Franks Klienten und wie er mit seinem Umgang mit farbigen Stoffen im Raum eine Form von eigenständig-freier Wohnkultur fand.

Denkanstoß und Diskussionsstoff

Die Lektüre von „Design Dialog“ bietet einen neuen und in seiner Detailfülle historisch spannenden Blick auf eine Phase der lang dauernden Umwandlung der österreichischen und speziell Wiener Gesellschaft, die bis heute nachwirkt. Vor allzu simplen Vergleichen mit der Gegenwart sollte man sich bekanntlich hüten, will man Kurzschlüsse vermeiden. Ob von den Autorinnen und Autoren beabsichtigt oder nicht: Der Band regt jedenfalls unweigerlich zum Nachdenken über das Heute an - so unzeitgenössisch kann man gar nicht sein. Und er bietet dafür jedenfalls interessante Denkanstöße und Diskussionsstoff.

Guido Tiefenthaler, ORF.at

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