Die Ikone hätte gelacht

Am 15. Jänner 1919 wurde Rosa Luxemburg von Rechtsextremen in Berlin ermordet. Die radikale Humanistin und Mitbegründerin der KPD wurde zur Ikone der Linken - worüber sie selbst vermutlich gelacht hätte.

„Sie hat sich als eine normale, linke Sozialistin verstanden, aber sie hätte nie gedacht, dass sie als Person groß über den Tag wirken würde“, sagt der Historiker und Luxemburg-Experte Jörn Schütrumpf gegenüber science.ORF.at. Schütrumpf ist Leiter der „Fokusstelle Rosa Luxemburg“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin und einer der Mitveranstalter der aktuellen Gedenkveranstaltungen.

science.ORF.at: Viereinhalb Jahre vor ihrer Ermordung hatte Rosa Luxemburg Suizidgedanken, warum?

Jörn Schütrumpf: Das war am Abend des 4. August 1914, als sich die Reichstagsfraktion der SPD zur Überraschung aller plötzlich entschied, für die Kriegskredite zu stimmen. Wenige Tage davor war Jean Jaurès, ein Freund-Feind von Rosa Luxemburg, in Paris von einem französischen Nationalisten ermordet worden. Luxemburg reagierte auf diese beiden Ereignisse so verzweifelt, dass sie an dem Abend meinte, sich das Leben nehmen zu müssen – als Fanal, um die Arbeiter aufzurütteln. Sie hatte aber Glück, denn eine Reihe von Freunden konnte sie davon abhalten – mit dem Argument, dass das niemand interessieren würde. So hat sie ihr Leben um einige Jahre verlängert.

Ermordung Luxemburgs

Rosa Luxemburg, am 5. März 1871 in Polen geboren, wurde am 15. Jänner 1919 in Berlin von Angehörigen einer rechtsextremen „Bürgerwehr“ verhaftet. Nach einem brutalen Verhör wurde sie mit einem Gewehrkolben bewusstlos geschlagen, ein Freikorps-Angehöriger ermordete sie mit einem Schläfenschuss. Ihren Leichnam versenkten die Mörder im Berliner Landwehrkanal.

science.ORF.at: Wenn man an den Beginn ihres Lebens denkt: Warum ist sie als fünftes Kind einer bürgerlichen jüdischen Handelsfamilie mit enormer Bildung überhaupt zu einer Verfechterin der Arbeiterbewegung geworden - sie hätte doch auch ein bequemes bürgerliches Leben führen können?

Schütrumpf: Nein, das konnte sie nicht, das ist das große Missverständnis bei Luxemburg. Ihr ist als Kind etwas Schreckliches widerfahren. Ihre 15 Jahre ältere Schwester hatte ein Hüftleiden, und die Ärzte befürchteten, dass sie das auch bekommen würde. Deshalb haben sie das Kind mehrere Monate lang in ein Gipsbett gelegt, und danach hatte sie tatsächlich ein Hüftleiden. Auch wenn es uncharmant klingt, aber Luxemburg hatte, nachdem sie 1898 in Warschau ein hervorragendes Abitur gemacht hatte, keinerlei Chancen auf dem jüdischen Heiratsmarkt. Die Frau war schlicht nicht verheiratbar. Ihre Eltern waren auch nicht vermögend, sie mussten schon die eine Tochter mit durchschleppen, und nach einem Jahr wurde klar, dass sie eine zweite Tochter nicht auf Dauer unterhalten würden können. Da gaben sie dem Drängen ihrer klugen Tochter nach, sie nach Zürich ziehen zu lassen – das war damals auf dem europäischen Festland die einzige Stadt, wo Frauen studieren konnten. Dort ist sie mit Emigranten, Revolutionären zusammengekommen, u. a. auch mit Leo Jogiches, der ein Sohn reicher Eltern und der 15 Jahre lang ihr Lebensgefährte war.

Luxemburg 1907 bei einer Rede in Stuttgart

AP

Luxemburg 1907 bei einer Rede in Stuttgart

science.ORF.at: Spätestens ab Zürich war sie also sehr wohl vermittelbar auf dem Beziehungsmarkt …

Schütrumpf: Ja, aber sie war nie verheiratet – mit Ausnahme einer Scheinehe, die sie eingehen musste, um an die preußische Staatsbürgerschaft zu kommen, weil die preußischen Behörden die „nette“ Angewohnheit hatten, russischen Auslieferungsbegehren nachzukommen, was sie verhindern wollte. Luxemburg hatte eine Reihe von Verehrern, aber das war die erfolgreiche, scharfzüngige und sehr kluge Frau. Erfolg macht sexy, und das war auch bei ihr nicht anders. Sie hat ihre Partnerschaften sehr intensiv gelebt, aber sie wusste auch, dass sie meist nicht von Ewigkeit sind.

science.ORF.at: Wie wichtig war das „Frausein“ überhaupt für sie in der Arbeiterbewegung?

Schütrumpf: Sie war eine stolze Frau, wollte als solche behandelt werden, hat aber auch sehr darauf geachtet, dass sie nicht in die Frauenecke abgeschoben wurde. Wie in anderen Parteien war es auch in der Sozialdemokratie üblich, Frauen auf Frauenthemen zu begrenzen. Das hat man auch bei ihr versucht, aber das hat nicht funktioniert. Sie befand sich bei allen Themen auf Augenhöhe mit den Herren der Schöpfung und hat sich die Gleichberechtigung jeden Tag aufs Neue erkämpft.

science.ORF.at: Dennoch wurde die Geschlechterkarte immer wieder gespielt, nicht zuletzt von den Leninisten-Stalinisten, die das Bild der „hysterischen Luxemburg“ geprägt haben.

Ö1-Sendungshinweise

Radiokolleg: Eine Ikone des Aufbegehrens: 14.-17.1, 9:30 Uhr. Im Gespräch: Jörn Schütrumpf: 17.1, 21 Uhr.

Schütrumpf: Natürlich, aber das haben nicht erst die Leninisten und Stalinisten getan. Ihrer späteren Freundin Käte Duncker etwa ging Luxemburg anfangs ziemlich auf die Nerven. Denn sie konnte sehr schrill sein, sprach ein polnisch gefärbtes Deutsch und hatte ein Temperament, das nicht nur manche Männer, sondern auch Frauen verschreckte. Es dauerte eine Weile, bis man merkte, dass sie eine sehr sensible und intelligente Frau ist. Sie hatte in ihrem Auftreten durchaus nicht nur sympathische Züge.

Gedenkstätte von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am Berliner Friedhof Friedrichsfelde

AFP

Gedenkstätte von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am Berliner Friedhof Friedrichsfelde

science.ORF.at: Am Wochenende haben am Friedhof Friedrichsfelde in Berlin - wie jedes Jahr - Zehntausende Menschen an Rosa Luxemburg erinnert. Warum kommen die eigentlich, und an welche Luxemburg denken sie?

Schütrumpf: In erster Linie denken die an sich und trauern um sich selbst – wegen des eigenen Versagens. So erfolgreich ist die Linke in Deutschland ja nicht gewesen. Die 40 Jahre DDR sind nicht gerade als Erfolg vorzuweisen. Luxemburg und Liebknecht haben den Vorteil, dass sie nie politische Macht hatten, sie haben sich nie die Finger schmutzig gemacht, anders als viele nach ihnen. Zynisch gesprochen: Sie sind rechtzeitig und von der richtigen – nämlich politisch rechten – Seite ermordet worden. Sie bringen, ohne große eigene Beiträge geleistet zu haben, viele Attribute mit, um sie auf einen Sockel zu stellen – und das ist das Letzte, was sich beide verdient haben. Luxemburg konnte sehr stark lachen – ihr Lachen war gefürchtet – und sie hätte sich totgelacht, wenn sie gewusst hätte, was nach ihrem Tod alles mit ihr veranstaltet werden würde.

science.ORF.at: Inwiefern?

Schütrumpf: Luxemburg hat sich nicht so wichtig genommen. Sie hatte ein großes Selbstbewusstsein und wusste, was sie leistet. Aber sie hätte es sich wirklich nie vorstellen können, dass eines Tages in Berlin-Mitte irgendwelche Sätze von ihr in Kupfer gegossen in die Erde eingelassen werden, darüber hätte sie sich totgelacht. Sie hat sich als eine normale, engagierte, linke Sozialistin verstanden, aber sie hätte nie gedacht, dass sie als Person groß über den Tag wirken würde. Und sie hat ja letztlich über den Tag hinaus als Person nur durch ihre Ermordung gewirkt. Zumindest den deutschen Teil ihrer Schriften haben wir erst jetzt mühsam komplett herausgegeben, im Vorjahr sind die letzten zwei Bände erschienen.

SPD-Parteitag in Jena 1905: Rosa Luxemburg (3. von links) u.a. in Begleitung von Franz Mehring (2.v.l) und Clara Zetkin.

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SPD-Parteitag in Jena 1905: Rosa Luxemburg (3. v. l.) u. a. in Begleitung von Franz Mehring (2. v. l.) und Clara Zetkin

science.ORF.at: Wie versuchen Sie, Luxemburg zum „100er“ gerecht zu werden?

Schütrumpf: Wir versuchen keine Trauerveranstaltungen zu machen, sondern etwas, was dem Selbstverständnis einer Luxemburg entspricht: ein Abendessen mit besinnlichen Texten von ihr, eine Kollegin aus Buenos Aires spielt Kostproben einer Luxemburg-Oper, eine Soziologin aus Cambridge wird Luxemburg tanzen usw. Die Frau war dem Leben sehr zugewandt und sehr an Kultur interessiert. Man weiß aus ihren Briefen, dass sie die moderne Literatur kannte, die Russen und Amerikaner, und diese Art der Leichtfüßigkeit ihres Lebens, die es auch gab, versuchen wir an die Öffentlichkeit zu bringen.

science.ORF.at: Das vielleicht bekannteste Zitat von Luxemburg lautet: „Die Freiheit ist immer die Freiheit des anders Denkenden“, geschrieben im Zusammenhang mit der russischen Oktoberrevolution. Wie ist das zu verstehen?

Schütrumpf: Die Luxemburg war jemand, die Gesellschaft organisch dachte. Für sie ließen sich Probleme nicht mit einer Diktatur, Unterdrückung oder Terror lösen, sondern nur so, indem sie voll ausgelebt und durchgekämpft werden - und Mehrheiten die neue Situation nach Umwälzungen auch tatsächlich wollen und tragen. Damit etwas ausgekämpft werden kann und hinterher nicht wieder alles zusammenbricht, wie wir das 1989/90 erlebt haben, müssen natürlich alle Seiten ihre Kampfmöglichkeiten haben – und das meint die Freiheit der anders Denkenden. Das war kein moralinsaures Geschwätz, Luxemburg meinte, dass es einen Sozialismus nur geben würde als Ergebnis einer massenhaften Auseinandersetzung, die dann auch von den Massen getragen wird. Und das geht nicht, indem man die Gegner einfach umbringt, wie das die Bolschewiken getan haben, denn dann stellt sich nachher der ganze alte Kram wieder ein, weil die Verhältnisse nicht geändert sind. Verhältnisse verändert man nur, wenn Mehrheiten andere Verhältnisse wollen und die auch tragen, dafür ist die Freiheit der anders Denkenden unverzichtbar.

science.ORF.at: Auch die der Rechten und Präfaschisten?

Schütrumpf: Gerade die! Es ging ja darum, den Gegner niederzukämpfen, und das konnte man nur in der Öffentlichkeit. Luxemburg konnte sich im Gegensatz zu vielen anderen in der sozialistischen oder kommunistischen Bewegung Sozialismus nur als Produkt von öffentlicher Auseinandersetzung vorstellen, an der alle teilhaben. In ihrem Selbstverständnis konnte man Leute nicht schlagen, indem man ihnen das Maul stopft. Damit macht man sie nur stark. Man kann sie nur intellektuell und politisch schlagen, und dafür braucht es die öffentliche Auseinandersetzung. So hat sie ihr Leben lang Politik gemacht, alles andere erschien ihr völlig absurd.

Die Beisetzung von Rosa Luxemburg am 13. Juni 1919

Dt. Bundesarchiv, Bild 146-1976-067-25A / CC-BY-SA 3.0

Der Leichnam Rosa Luxemburgs wurde Ende Mai 1919 entdeckt, am 13. Juni wurde sie nach einem Trauerumzug beigesetzt

science.ORF.at: Deshalb hat sie sich auch immer dafür eingesetzt, die politischen Freiheiten zu verteidigen?

Schütrumpf: Ja, die waren für sie die Grundvoraussetzung, um dann in der Öffentlichkeit in Ergänzung zu den politischen Freiheiten für soziale zu kämpfen. Ein Sozialismus, der nur aus sozialen Freiheiten besteht, wie sich das die Russen vorgestellt haben, war für sie keiner. Für Luxemburg waren Meinungs- und Pressefreiheit, Organisations- und Versammlungsfreiheit, Freiheit des Einzelnen vor der Willkür des Staates, das Ganze abgesichert durch Verfassung und Rechtsstaat, die Voraussetzungen dafür, dass man überhaupt zum Kampf für den Sozialismus antreten kann. Deshalb hat sie auch gemeint, dass es in Russland bestenfalls zu einer Verfassung kommt, die jene politischen Freiheiten bringt, auf deren Basis man den Massen Bildung zukommen lässt und über den Sozialismus streiten kann, sodass diese selbst darüber entscheiden. Die Bolschewiken hingegen haben gesagt, egal, was die Massen wollen, wir gründen eine Partei und verordnen den Sozialismus.

science.ORF.at: Wo würde Rosa Luxemburg heute politisch stehen? Wen würde sie wählen? Würde sie überhaupt wählen?

Schütrumpf: Ich glaube, sie wäre außerparlamentarisch aktiv, möglicherweise auch irgendwohin ausgewandert. Rosa Luxemburg in der heutigen Politik ist schwer vorstellbar.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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