Triebfeder des Pop: Provokation

Soft-Rock, Punk und Eurodance - lassen sich musikalische Trends auch wissenschaftlich beschreiben? Komplexitätsforscher haben in der Popgeschichte ein Muster entdeckt: Die kreative Auflehnung ist der Zündstoff neuer Stilepochen.

Schon seit rund 100 Jahren beschäftigen Modezyklen die sozialwissenschaftliche Forschung. Der Wechsel von größeren Trends wurde einerseits damit erklärt, dass eine Art „Elite“ - sprich einflussreiche Personen - ihre Sonderstellung mit Hilfe eines neuen Signals zur Schau stellt. Ein Beispiel dafür sei US-Präsident Trump, der sich gerne „im goldenen Penthouse inszeniert“, sagte der Komplexitätsforscher Peter Klimek von der Medizinischen Universität Wien im Gespräch mit der APA.

Drei Theorien

Zum Trend wird das, wenn viele Leute diese Signale kopieren. Da sich das Signal dann aber nicht mehr als Status-Hinweis eignet, müssen die Eliten ein neues Signal einführen, um sich wieder abzuheben. Laut dieser „Costly signaling-Theorie“ beginnt dann ein neuer Modezyklus. Eine andere Gruppe einflussreicher Theorien - die „Random Pattern-Theorien“ - besagen wiederum, dass Trends eher durch einen Zufallsprozess und nicht unbedingt von einer Elite ausgehend in die Welt gelangen.

„Mit beiden Theorien gibt es aber Probleme“, so Klimek, der auch am Complexity Science Hub (CSH) Vienna forscht. So geht erstere davon aus, dass Trendsetter nicht kopiert werden wollen, was vor allem angesichts der Horden an Influencern, die von möglichst vielen Followern unbedingt gehört und gesehen werden wollen, zweifelhaft sei. Die „Random Pattern-Theorien“ können hingegen nicht erklären, warum sich aufeinanderfolgende Trends oft stark voneinander unterscheiden.

Nirvana-Sänger Kurt Cobain (Hollywood 1991)

Kevin Estrada / MediaPunch/IPX

Kontrastprogramm: Nirvana lieferten einen „dreckigen“ Sound (Nirvana-Sänger Kurt Cobain, Hollywood 1991)

So lieferten etwa Ende der 1960er Jahre die Heavy Metal-Pioniere von Black Sabbath einen scharfen Kontrapunkt zu Bands wie den Beach Boys oder den Bee Gees, ähnlich krass fiel dann der Schwenk vom Softrock der Eagles in Richtung Punk-Rock a la Sex Pistols in den 1970er Jahren oder jener vom glattgebügelten Stadionrock der 1980er (Queen, Toto) zum von Nirvana und Co etablierten raueren und bewusst „dreckigeren“ Grunge aus, so Klimek.

Provokante Gegensignale

Der dritte theoretische Zugang geht von vielen aktiven Gruppen aus, die im Wettbewerb um die Signal-Vorherrschaft stehen („Gegendominanz-Signaltheorie“). Ein Trend entsteht dann, wenn die dominante Gruppe von einer anderen „provokativ herausgefordert“ wird, indem sie ein wichtiges Merkmal der vorherrschenden Gruppe herausnimmt, es „ins extreme Gegenteil verkehrt und damit zeigt, dass man diese Haltung ablehnt - indem man sie sozusagen verarscht“, erklärte Klimek.

Die Wissenschafter hefteten sich mittels Daten zu Musikproduktionen zwischen 1956 und 2015 auf die Fersen der Theorien. In der offenen Online-Datenbank „Discogs“ fanden sich zum Zeitpunkt der Untersuchung Informationen zur Instrumentierung, Produktionsweise oder verwendeten Samples von rund acht Millionen Alben.

Zyklen in der Popgeschichte

Dieser Mix an Faktoren liefert sehr verlässliche Hinweise auf die Musikstile wie Hip-Hop oder Rock, wie die Forscher um Klimek und den CSH-Leiter Stefan Thurner bereits in verhergehenden Studien zeigten. „Man sieht da wunderbare Zyklen in den Daten, von der ‚Brit-Invasion‘ in den Sechzigerjahren zur Disco-Phase der Siebziger, der Synthpop-Phase in den 80ern, der Eurodance-Phase in den Neunzigern bis zur aktuellen elektronischen Musik, die mittlerweile viele Pop-Genres durchdrungen hat“, so Klimek.

Wham! 1985, Andrew Ridgeley und George Michael

AP Photo

„A Different Corner“: Musikalische Trends entstehen durch Gegensätze (Wham! 1985)

Fast über alle Genres hinweg zeigte sich, dass jene, die zu der jeweiligen Zeit den Ton angaben, häufig kopiert wurden. Auch andere Musikstile wurden dem vorherrschenden Trend immer ähnlicher. Auf den Stil etablierter erfolgreicher Gruppen hatte das - entgegen der Annahme der „Costly signaling-Theorie“ - aber kaum einen Einfluss.

Kreative Auflehnung als Triebfeder

Ganz anders fanden sich in den Analysen laut Klimek aber „starke Gegendominanzsignale“. Die kreative Auflehnung anderer Gruppen gegen die jeweils dominante Richtung entpuppte sich demnach auch als die wichtigste Triebfeder für die beobachteten musikalischen Modezyklen, die laut der Datenanalyse auch nicht zufällig ablaufen. Die Untersuchung zeige, wie man nun mathematische Evidenz in die sozialwissenschaftlichen Debatten einbringen kann, so der Komplexitätsforscher.

Obwohl aufgrund technischer Entwicklungen heute nahezu jeder zuhause Popmusik produzieren könnte, zeichnet sich die aktuelle Popmusik-Landschaft aber nicht unbedingt durch größere Vielfalt aus, zeigte bereits eine frühere Studie von Klimek und Kollegen: Im Bereich der elektronischen Musik tue sich zwar „wahnsinnig viel“, insgesamt würden aber im Grunde immer die gleichen musikalischen Zutaten verwendet, die über die gängigen Produktionsprogramme erhältlich sind. „Es wird viel mehr nachgemacht und in den Richtungen, die erfolgreich sind, nimmt die Diversität immer mehr ab.“

science.ORF.at/APA

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