Kleine Teams sind kreativer

Forscherkollektive werden immer größer, manche zählen tausend und mehr Mitglieder. Doch dieser Trend nagt an der Kreativität, wie Soziologen nachgewiesen haben: Es sind die kleinen Teams, die neue Ideen entwickeln und für den Fortschritt sorgen.

Wenn die Rede auf die Durchbrüche der Wissenschaft kommt, die „Paradigmenwechsel“, wie sie Thomas Kuhn nannte, dann stehen die großen Namen für die Erkenntnis selbst: Ob nun der Name Albert Einstein fallen mag oder Gregor Mendel, ob Marie Curie oder Alexander Fleming - auffällig ist jedenfalls, dass all diese Neuerer ihre Ideen im Alleingang entwickelten. Und wenn nicht allein, dann höchstens zu zweit oder zu dritt.

Hat das mit der historischen Perspektive zu tun? Schließlich haben sich Spezialistentum und Arbeitsteilung erst in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, da scheint es in der Natur der Sache zu liegen, dass der Fortschritt heute weniger an Einzelpersönlichkeiten gebunden ist, sondern ans Kollektiv. Wie sonst hätte man etwa - um beim Beispiel Einstein zu bleiben - die Gravitationswellen nachweisen können, wenn nicht mit einer Riesenmaschine, an deren Konstruktion mehr als tausend Wissenschaftler beteiligt waren? Der Trend zum Superlativ spiegelt sich auch in der Forschungsförderung. Es gilt das Prinzip: „Bigger is better.“

„Das konservativste Experiment“

James Evans würde das nicht unterschreiben. Der Soziologe und Computerwissenschaftler von der University of Chicago legte eine Analyse vor, die die Erfolgsgeschichte der „Big Science“ gegen den Strich bürstet: Große Forscherteams sind ihm zufolge vor allem mit der Fortführung des Bestehenden beschäftigt, sie detaillieren bereits vorhandene Ideen und entwickeln sie weiter. Geht es um das wirklich Neue, um Impulse, die zu einer Neuordnung der Wissenschaft führen, dann sind nach wie vor kleine Gruppen im Vorteil.

Ligo-Observatorium in Hanford, USA

Caltech/MIT/LIGO Laboratory

LIGO-Observatorium: Mit dieser Maschine gelang der Nachweis der Gravitationswellen

„Die Gravitationswellen sind ein gutes Beispiel für unsere Ergebnisse“, sagte Evans im Gespräch mit science.ORF.at. „Natürlich war der Nachweis ein Wunder der Technik, daran ist nicht zu zweifeln. Gleichzeitig war das Experiment eines der konservativsten der Geschichte. Die Entwicklung der Instrumente nahm Jahrzehnte in Anspruch und war darauf angelegt, den vorhergesagten Effekt endlich zu messen. Eines konnte die Maschine jedenfalls nicht: für Überraschungen sorgen.“

Maßzahl der Unruhe

Zu seinem Befund kam Evans aufgrund statistischer Analysen von 65 Millionen Publikationen, Patenten und Softwareprodukten aus den Jahren 1954 bis 2014. Der Zusammenhang besteht quer durch alle Disziplinen, von der Physik bis zur Biologie, in der Materialwissenschaft ebenso wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Einen Blick wert ist auch die Methode, die Evans und seine Kollegen verwendeten. Wie die Forscher im Fachblatt „Nature“ schreiben, lässt sich anhand der Studienzitate ein „index of disruptiveness“ - quasi ein Maß für die Unruhe im Forschungsbetrieb - erstellen.

Die Idee ist folgende: Wenn Forscher den Urheber oder die Urheberin einer Studie zitieren und ansonsten die gleiche Literatur wie der Urheber selbst, dann ist in den meisten Fällen nichts Besonderes passiert. Zitieren sie hingegen den Urheber und lassen die alte Literatur außer Acht, dann weist das auf einen Bruch hin: darauf, dass in dieser Arbeit eine grundlegend neue Idee formuliert wurde.

Dieser kreative Störfaktor ist offenbar bei kleinen Teams messbar höher als bei großen. Gibt es eine ideale Teamgröße? „Ich glaube nicht, dass es darauf eine einfache Antwort gibt. Wenn es nur um den Bruch mit der Tradition ginge, dann wäre eine Teamgröße von zwei Personen optimal“, sagte Evans. „Aber natürlich hat die Wissenschaft auch andere Ziele. Für die schrittweise Abarbeitung großer Probleme kommt man an großen Kollaborationen nicht vorbei. Das Problem ist nur: Was die Finanzierung anbelangt, drohen die großen Teams die kleinen zu verdrängen. Und das macht mir Sorgen.“

„Frischer Wind“ für alte Debatte

Wie Evans mit seinen Kollegen schreibt, lässt sich das weite Feld der Publikationen entlang dieser neuen Messachse ordnen. Ideen, die später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, haben beispielsweise einen hohen „index of disruptiveness“. Am anderen Ende der Skala rangieren Überblicksartikel und Reviews. Publikationen also, die den Stand der Normalforschung abbilden.

Ob sich die Qualität von Wissenschaft durch Maßzahlen bestimmen lässt, ist freilich umstritten. Die bisher verwendeten Indizes konzentrieren sich vor allem auf die Popularität von wissenschaftlichen Beiträgen - und wurden nicht selten für erbsenzählerische Vergleiche missbraucht. In diesem Fall geht es aber nicht um die Zahl der Zitate, sondern bloß um Muster darin. Dieser Ansatz bringe „frischen Wind“ in die alte Debatte über Sinn und Unsinn solcher Indizes, schreibt Pierre Azuolay vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in einem „Nature“-Kommentar.

Für Ranglisten in der Fachgemeinde ist der neue Index gleichwohl nicht geeignet, denn er funktioniert nur im historischen Rückblick. Das gilt nicht zuletzt für Evans eigene Arbeit. „Ob unser Vorschlag Anklang findet, wird die Geschichte zeigen. Wir werden sehen“, sagte der Soziologe von der University of Chicago. Geht man nach der Größe seines eigenen Teams, besteht zumindest Potenzial für Unruhe: Die „Nature“-Studie hat nur drei Autoren.

Robert Czepel, science.ORF.at

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