Modell: Was Sandhaufen verraten

Komplexe Systeme wie Waldbrände, Erdbeben oder Verkehrsstaus haben eines gemeinsam: Sie lassen mit einem Sandhaufen erklären, bei dem ein zusätzliches Sandkorn eine Lawine auslösen kann. Forscher haben an einem solchen Modell nun neue Eigenschaften entdeckt.

Der dänische Physiker Per Bak hat 1987 das Konzept der sogenannten „selbstorganisierten Kritikalität“ veröffentlicht. Er veranschaulichte die Idee mit einer Sanduhr, in deren unterer Hälfte sich ein Sandhaufen bildet. Dieser wird zunehmend größer - bis der Zustand der Kritikalität erreicht wird. An diesem Punkt kann jedes weitere Sandkorn eine Lawine auslösen. Dabei ist es unmöglich vorherzusagen, ob ein bestimmtes Sandkorn nur ein winziges, kaum wahrnehmbares Abrutschen auslöst oder eine gigantische Lawine verursacht.

So unterschiedliche komplexe Systeme wie Lawinen, Erdbeben, die Ausbreitung von Waldbränden, das Feuern von Neuronen oder das Verhalten von Ameisen unterliegen dieser „selbstorganisierte Kritikalität“. Eines der bekanntesten Modelle zur Beschreibung des Konzepts ist der „Abelsche Sandhaufen“.

In die Realität umgesetzt würde dieses Modell aus einem Spielbrett mit quadratischen Feldern bestehen, ähnlich einem Schachbrett. Auf das Brett fallen in zufälliger Verteilung Sandkörner. Felder mit maximal drei Sandkörnern bleiben stabil. Sobald sich aber vier oder mehr Körnchen auf einem Feld ansammeln, wird dieses instabil und es kippt. Dabei werden dann vier Sandkörner von dem Feld jeweils auf eines der vier benachbarten Felder verteilt. Das kann zu einer Kettenreaktion führen, deren Größe allerdings unklar ist. Es kann sein, dass die „Lawine“ bald wieder verebbt, sie kann sich aber auch über das gesamte Spielbrett ausbreiten.

Neuer mathematischer Ansatz

Dass sich dieses Modell gut veranschaulichen lässt, hat der deutsche Physiker Wolfgang Kinzel vor einigen Jahren mit dem im Handel erhältlichen Brettspiel „Kettenreaktion“ gezeigt. Er hat dabei das Konzept mit Stäben und Scheiben realisiert, wobei die Stäbe bei einer bestimmten Scheibenanzahl zu „kippen“ beginnen.

Seit mehr als 30 Jahren wird dieses Sandhaufenmodell intensiv erforscht, aber noch sind viele Fragen offen. So kann man sich noch nicht erklären, warum in diesem mathematischen Modell fraktale Muster auftreten, also sich wiederholende selbstähnliche Muster ähnlich wie in der grafischen Darstellung der berühmten „Mandelbrot-Menge“. Der Theoretische Biologe Moritz Lang und der Mathematiker Mikhail Shkonikov vom Institute of Science and Technology (IST) Austria haben in einer im Fachjournal PNAS veröffentlichten Arbeit sinnbildlich Sandkörner auf spezifische Weise auf das Spielbrett rieseln lassen. In den fraktalen Mustern tauchten dabei Dynamiken auf, die Bewegungen von Sanddünen in Wüsten oder psychedelischen Filmen aus den 1970er Jahren ähneln.

„Wir sehen nicht nur diese Sanddünen, sondern können auch jeder bestimmte Koordinaten geben und sie damit identifizieren - das ist ein neuer mathematischer Ansatz, um das Ganze zu beschreiben“, sagt Lang. Die Wissenschaftler glauben, dass das der Schlüssel zum besseren Verständnis des Sandhaufen-Modells und damit möglicherweise auch vieler anderer Phänomene sein könnten, die der „selbstorganisierte Kritikalität“ unterliegen. Anwendungsmöglichkeiten ihrer theoretischen Arbeit auf reale Probleme sehen sie etwa in der Vorhersage von Erdbebengrößen, in der Funktionsweise des menschlichen Gehirns, in der Physik oder in den Wirtschaftswissenschaften.

science.ORF.at/APA

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