Die Bedeutung des Existenziellen

Krankheit, Leiden, Todesangst: Grenzerfahrungen wie diese spielten in der Philosophie von Karl Jaspers eine zentrale Rolle. Vor 50 Jahren, am 26. Februar 1969, starb der Psychiater und Philosoph in Basel.

Jaspers verstand sein Philosophieren als grenzüberschreitendes Denken, das der Einzelne selbst zu vollziehen hat. Dieses Denken soll sich keineswegs – wie in der akademischen Philosophie üblich – in einer möglichst komplexen, in sich geschlossenen Theorie verfestigen, sondern als Experimentalphilosophie gelebt werden.

Jaspers zentrales Anliegen bestand darin, auf die Bedingtheit der menschlichen Existenz hinzuweisen. Es gibt für ihn keine Rückversicherung durch metaphysische philosophische Konzeptionen oder durch den Trost der Religion. Philosophie, wie sie Jaspers versteht, bewegt sich nicht im Bereich der bestehenden Faktizität; sie ist vielmehr ein Hinausgehen ins Offene, Ungeschützte, das keinerlei festen Halt anbietet.

Existieren, Sein, Grenzerfahrungen

Jaspers unterschied zwischen „Existieren“ und „Sein“ - zwei Begriffe, die völlig verschiedene Phänomene bezeichnen. Während Pflanzen nur „sind“, sich um ihre Existenz nicht zu kümmern brauchen, „existiert“ der Mensch; er ist aufgerufen, sich Lebensziele zu setzen und sie zu verwirklichen. Gleichzeitig wies Jaspers darauf hin, dass diese Selbstverwirklichung von Situationen bedroht ist, über die der Mensch nicht verfügen kann.

Der deutsche  Psychiater und Philosoph Karl Jaspers im Jahr 1968

AFP

Karl Jaspers, geboren 1883, promovierte in Heidelberg 1908 mit einer Arbeit über „Heimweh und Verbrechen“. Dank der Vermittlung des Soziologen Max Weber wurde er dort Dozent für Psychologie, 1922 erhielt er eine ordentliche Professur für Philosophie. Unter den Nationalsozialisten erhielt er Lehrverbot. 1948 nahm Jaspers einen Ruf an die Universität Basel an, wo er bis zu seinem Tod am 26. Februar 1969 lebte.

So schrieb er: „Es gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: Ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld.“

Diese Phänomene des menschlichen Daseins nannte Jaspers Grenzerfahrungen, die wir nicht ändern können. Solch eine Grenzerfahrung begleitete Jaspers seit seiner Jugend. Er litt von Kindheit an unter Bronchialproblemen, die seine körperliche Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigten und eine disziplinierte Lebensweise erforderten. Diese Außenseiterposition prädestinierte ihn für die Psychopathologie, die am Beginn des 20. Jahrhunderts meist als empirische, „objektive“ Wissenschaft betrieben wurde, die sich mit einer Auflistung sogenannter psychischer abnormer Phänomene begnügte.

Das Seelische will verstanden werden

Entschieden stellte sich Jaspers gegen die Klassifikationssucht seiner Kollegen, die den Manifestationen des „Abnormen“ - den Obsessionen und Phantasmen des Wahnsinns - mit Schematismen begegnen wollten. Dieses Verständnis der Psychiatrie suchte Jaspers auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit umzusetzen. Nach seiner Promotion kam er als Assistent an die Psychiatrische Klinik Heidelberg, wo er sich die Grundlagen für sein heute noch gültiges Standardwerk über die „Allgemeine Psychopathologie“ erarbeitete.

Was Jaspers Ansatz von der „somatischen“ Ausrichtung der Psychiatrie seiner Zeit unterscheidet, ist vor allem die Überzeugung, dass das Seelische, anders als die Gegenstände der Naturwissenschaften, nicht „erklärt“, sondern nur „verstanden“ werden kann. Seelische Phänomene haben keine eindeutige Ursache. Sie bilden vielmehr komplexe Sinnzusammenhänge, die es zu interpretieren gilt und das wird gerade bei jenen pathologischen Zuständen deutlich, wo das Verstehen an seine Grenzen stößt.

Arzt-Patient: Existenzielle Kommunikation

Dieser Ansatz hat schwerwiegende Folgen für die therapeutische Beziehung, denn er verlangt, dass der Arzt die Selbstdarstellung des Kranken ernst nimmt, dass er sich in ihn hineinversetzt, ihm zuhört und mit ihm spricht, und zwar auf gleichem Niveau. Das Ideal ist ein Gespräch, bei dem der Arzt nicht nur den Patienten, sondern auch sich selbst besser versteht. Aus dem Arzt-Patient-Verhältnis macht Jaspers ein Paradigma dessen, was er als Philosoph „existenzielle Kommunikation“ nennen wird.

Ö1-Sendungshinweis

Wolfgang Müller-Funk über Karl Jaspers in Gedanken für den Tag am 25.2.-2.3. um 6.56 Uhr.

Diese „existenzielle Kommunikation“ ist eine Form der Grenzerfahrungen, die den Kontext der vorgegebenen, feststehenden Welt des Faktischen und der Zweckrationalität sprengen, in die das Individuum „geworfen“ wird. Diese Transgressionen können in existenziellen Augenblickserlebnissen erfolgen, wie sie etwa der Mystiker erlebt; sie können sich auch in der existenziellen Kommunikation mit anderen Menschen – in einer intensiven Liebesbeziehung – ereignen; denn der Mensch ist auch ein Wesen, das die Kommunikation mit anderen sucht. „Ich muss veröden“, bemerkte Jaspers, „wenn ich nur ich bin.“

„Philosophie für jedermann!“

Die Kommunikation mit anderen suchte Jaspers auch in seinen philosophischen Schriften, worauf der Literaturwissenschaftler Dieter Lamping in seiner kürzlich publizierten Studie „Karl Jaspers als philosophischer Schriftsteller“ hinweist. Lamping beschreibt darin das schriftstellerische Selbstverständnis von Jaspers, der sich als „denkender Schriftsteller“ bezeichnete. Damit ist gemeint, dass er auf die übliche philosophische Fachterminologie und eine ästhetisch anspruchsvolle Stilistik verzichtet. Philosophie sollte vom elitären Gestus befreit werden und sich an die Öffentlichkeit richten, Deshalb erhob Jaspers die Forderung: „Philosophie für jedermann!“

Bedrohung durch die Nationalsozialisten

Jaspers, der sich in seinen Schriften auf die konkrete Existenz des Einzelnen bezieht, verstand sich nicht als politischer Philosoph. Erst die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten veranlasste Jaspers, dem politischen Denken verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken. Der Grund dafür war, dass seine Ehefrau aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammte. 1937 wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen; ein Jahr später erhielt er Lehrverbot.

Besonders bedrohlich empfand Jaspers die Möglichkeit einer Deportation. Die jahrelange, ständige Bedrohung durch die Schergen des nationalsozialistischen Regimes konnte Jaspers niemals verwinden. „Äußerlich sind wir ohne Schaden davongekommen“, schrieb er - "aber ich kann nicht vergessen, dass wir unser Leben den Amerikanern verdanken - gegen Deutsche, die uns im Namen des Nationalsozialismus vernichten wollten.“

Gegen den Totalitarismus

Das politische Engagement bildete für Jaspers auch nach 1945 ein wesentliches Element seiner Arbeit. Für ihn war es wichtig, eine Physiognomie des Totalitären zu zeichnen. Der geschlossenen, totalitären Welt, die den Einzelnen nur als belangloses Material betrachtet, das für ein utopisches Ganzes jederzeit geopfert werden kann, stellte Jaspers den Meinungspluralismus der westlich-liberalen Demokratien gegenüber. Darin sah er keineswegs einen Garanten für das Verschwinden totalitärer Tendenzen, die immer mit Intoleranz verbunden sind, die in immer neuen Ausprägungen anzutreffen ist.

Diesen totalitären Tendenzen entgegenzuwirken, das ist nun - so Jaspers - eine der wichtigsten Aufgaben eines verantwortungsvollen Denkens. Denn noch immer gibt es hasserfüllte Emotionen, Äußerungen von Intoleranz und einen latent vorhandenen Hang zum Totalitären. Daher kann man seine Charakteristik der gesellschaftspolitischen Situation der Nachkriegsjahre in Deutschland auf die Gegenwart übertragen: „Es war, als ob Stimmung und Charakter der Menschen sich überhaupt nicht geändert hätten. Es gab selten Würde, aber hier und da geheime Wut und Bosheit. Das wurde mit den Jahren schlimmer.“

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft

Literaturhinweise

Bücher von Karl Jaspers im Piper Verlag: Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge; Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie; Von der Weite des Denkens. Eine Auswahl aus seinem Werk; Der philosophische Glaube; Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands; Strindberg und van Gogh. Versuch einer pathographischen Analyse

Publikationen im Schwabe Verlag: Karl Jaspers, Dominic Kaegi (Hrsg.): Schriften zur Existenzphilosophie; Karl Jaspers, Kurt Salamun (Hrsg.):Vom Ursprung und Ziel der Geschichte; Karl Jaspers, Chantal Marazia (Hrsg.): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie

Sekundärliteratur: Dieter Lamping: Karl Jaspers als philosophischer Schriftsteller. Schreiben in weltbürgerlicher Absicht, J. B. Metzler Verlag; Hans Saner: Karl Jaspers, rororo