Wie der Fingerabdruck zum Beweisstück wurde

Der Fingerabdruck als Zeichen der Identität - eine Idee der Kriminalisten? Weit gefehlt, schreibt der Kulturwissenschaftler Geertjan de Vugt: Die „Kunst des Individualisierens“ stammt aus der Kunst.

Menschen hinterlassen Spuren, was immer sie tun. Das kann beabsichtigt sein oder durch eine unbewusste Berührung geschehen. Die Berührung ist sicherlich die menschlichste unter den Gebärden. Ob wir jemandem durchs Haar streichen oder über die Wange, oder Dutzende Male am Tag unser Smartphone aus der Jackentasche ziehen – ständig gleiten unsere Finger über die Oberflächen von Menschen, Tieren oder Dingen.

Die Spuren der Finger sind oft mit bloßem Auge kaum wahrnehmbar: ein bezauberndes Linienspiel aus Wellen, Spiralen, Kurven und Gabelungen. Sie wirken wie eine eigene Sprache, vielleicht wie eine Übersetzung der Sprache von Dingen, die selbst keine Stimme haben.

Geertjan de Vugt

Jan Dreer für IFK

Über den Autor

Geertjan de Vugt ist Autor und Koordinator für Kunst & Wissenschaft der Niederländischen Akademie der Wissenschaften. Er promovierte über Political Dandyism in Literature and Art (Palgrave 2018).

Seit März 2019 ist er am IFK in Wien und arbeitet dort an einer Essaysammlung über niederländische Lyrik - sowie an einer Kulturgeschichte des Fingerabdrucks.

Der Gastbeitrag wurde von Annette Wunschel aus dem Niederländischen übersetzt.

Hieroglyphen der Haut

Lange Zeit war der Mensch für diese Sprache taub. Natürlich lasen Chiromantiker die Zukunft aus der Hand, und Physiognomen erkannten darin Charaktereigenschaften. Doch erst in der Moderne kam es zu einer wirklichen Veränderung. Detektive, Kommissare und Polizeibeamte des 19. Jahrhunderts waren empfänglich für die Sprachzeichen – oder Hieroglyphen, wie man damals lieber sagte – unserer Haut. Ihr Interesse war jedoch nicht naiv. Sie wollten nicht schlichtweg das Unsichtbare sichtbar, das Unhörbare hörbar machen. Polizisten sind schließlich keine Dichter, und Detektive keine Künstler.

Mit der Einführung des Fingerabdrucks in die kriminologische Praxis waren Einbrecher und Gauner ihres Lebens nicht mehr sicher. Also taten sie die verrücktesten Dinge, um die Sprache des Körpers zum Schweigen zu bringen. Doch alle Versuche, die Papillarlinien zu entfernen – etwa durch Verätzen mit Säure oder durch Abfeilen – scheiterten. Sie kamen immer wieder. Allenfalls das Anbringen einer zweiten Hautschicht in Form eines Handschuhs bot eine flüchtige, aber verlässliche Lösung. Die Sprache des Körpers ist offenkundig eigensinniger, als man meinen möchte.

Ursprung als künstlerische Vignette

Aber woher kam nun die Idee, unsere Fingerkuppen für Techniken der Identifizierung zu benutzen? Tatsächlich wurde diese Technik in den überseeischen Kolonien entwickelt und angewandt: Dort nimmt die kriminologische Geschichte des Abdrucks ihren Anfang. Doch wer näher hinsieht, erkennt, dass ihre Wurzeln tiefer zurückreichen. Die These ist nicht zu weit hergeholt, dass die Wiege des Fingerabdrucks die Wechselwirkung zwischen Künsten und Wissenschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts war.

Dort passiert etwas Merkwürdiges. Noch bevor der Fingerabdruck als Identifikationsmethode eingeführt wird, ist er bereits Gegenstand der Fälschung. Wer beispielsweise die herrlich illustrierten Bücher des britischen Holzschneiders Thomas Bewick aufschlägt, erblickt zwischen ungezählten Wasservögeln und Vierfüßlern eine seltsame Vignette:

Historischer Fingerabdruck mit Landschaft im Hintergrund

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Und in einem seiner Bücher fügte Bewick vorne eine Quittung mit einer erstaunlichen Holzgravur ein: Über einer in schwarz gedruckten Landschaft schwebt Klatschmohn, darunter hat der Künstler die Gravur “seines Zeichens” gesetzt.

Historischer Fingerabdruck mit Unterschrift

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Die Frage nach der „Echtheit“ von Bewicks Abdruck hat Ermittler bis weit ins 20. Jahrhundert fasziniert. Seit seiner Geburt als Identifizierungstechnologie begleitet den Fingerabdruck ein Schatten, ein Doppelgänger, könnte man sagen, der ihn immerzu als unzuverlässig zu entlarven droht. Und doch konnte er zu dem Identifikationsmedium der Moderne aufsteigen.

Was die Kunst bildhaft darstellte, sollte bald von der Wissenschaft analysiert werden. Und wie sich zeigte, hatte diese besondere Wissenschaft künstlerische Ambitionen. Nachdem Bewick die Holzgravur seines Fingerabdrucks als Signatur verwendet hatte, wagte sich ein tschechischer Wissenschaftler an eine Systematisierung der Hautmuster.

Purkinjes Halluzinationen

In Prag arbeitet der junge Johannes Evangelista Purkinje an mehreren Experimenten zum Auge. Er fährt Karussell, nimmt halluzinogene Kräuter ein, schaut durch Papierstreifen in die Sonne und bemerkt jedes Mal erstaunliche konzentrische Muster. Kein Wunder also, dass er irgendwann auch auf die konzentrischen Muster aufmerksam wird, die wir alle auf der Haut tragen. Nachdem er neun – neun! – verschiedene Muster ermittelt hat, versteckt er sie gleichsam in einer Dissertation, die sich zum größten Teil der Erforschung des Sehorgans widmet: Commentatio de examine physiologico organi visus et systematis cutanei (1823).

Historischer Fingerabdruck

gemeinfrei

Es ist wenig darüber bekannt, wie dieser tschechische Physiologe zu seiner Systematisierung gekommen ist. Er muss unzählige Abdrücke von ebenso vielen Probanden genommen haben. Und wie kam er überhaupt auf die Idee, die Fingerkuppen zu untersuchen? Fiel es ihm etwa ein, als er zum ersten Mal mit Digitalis – dem hochgiftigen Fingerhut – experimentierte und tagelang halluzinierte? Aus den Zeichnungen, die er von diesem Experiment angefertigt hat, können wir erschließen, was er sah:

Konzentrische Zeichnungen

gemeinfrei

Wer will, erkennt darin mit etwas Phantasie abstrakte Fingerabdrücke. Ob auch Purkinje eine Ähnlichkeit bemerkte, lässt sich nicht mehr feststellen, aber es könnte sein, dass ihm damals der Gedanke kam, dass unser Körper – die Fingerspitzen vor allem – unsere individuelle Identität verrät. Es muss, dachte er, möglich sein, anhand der Finger eine ganze Population zu individualisieren. Es erfordert Erfahrung, ein genaues Auge und ein Gefühl für Ästhetik. Abdrücke zu nehmen, erkannte er, ist nicht weniger als eine Kunstform.

Und so notierte er in den Passagen über Fingerabdrücke in seiner sonst ganz lateinisch verfassten Commentatio auf Deutsch: Es ist die Kunst des Individualisirens. Eine neue Kunstform war geboren. Ihre Geschichte muss aber immer noch geschrieben werden.

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