Karaoke-Studie: Warum Scham wachhält

Menschen, die unter Schlaflosigkeit leiden, verarbeiten negative Erfahrungen schlechter als „Normalschläfer“. Die Schatten der Vergangenheit halten sie wach: Das zeigt eine kuriose Gehirnstudie an Karaoke-Sängern.

„Silent night, holy night, all is calm, all is bright …“ kennt wohl jede und jeder. Ebenso “Wilhelmus van Nassouwe ben ik van Duitsen bloed …“ - sofern man aus den Niederlanden stammt, denn so beginnt die dortige Nationalhymne.

Lieder wie diese sangen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen im ersten Schritt der Studie, die am Niederländischen Institut für Neurowissenschaften in Amsterdam durchgeführt wurde. Dass die Texte der Lieder sehr bekannt sind, war ein Auswahlkriterium, bestätigt Rick Wassing.

„Wichtig war aber auch, dass man die Lieder relativ langsam singen muss und sie eine recht breites Tonspektrum enthalten“, so der Studien-Erstautor gegenüber science.ORF.at. Denn dadurch könne man gut Töne verfehlen vulgo falsch singen.

Peinliche Gefühle im Gehirn

Ebendies taten die meisten der Probanden beim Lieder-Karaoke samt Aufnahme im Labor. Eine Woche danach kehrten sie zurück an die Forschungsstätte, bekamen ihren eigenen Gesang – ohne musikalische Unterstützung – vorgespielt und mussten dann ihre Gefühle beschreiben. Am stärksten und häufigsten: Scham und Peinlichkeit.

Den Forschern um Wassing ging es freilich nicht um einen Songcontest, sondern um die Herstellung eines besonders unangenehmen Gefühls – wie es Scham eben ist – und den Zusammenhang mit dem Schlafverhalten der knapp 60 Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Etwa die Hälfte von ihnen litt unter Schlaflosigkeit, die anderen waren gute Schläfer.

Die Forscher untersuchten bei ihnen allen mittels bildgebender Verfahren die Vorgänge im Gehirn während der schamvollen Gefühle. Das Ergebnis war bei allen eher ähnlich – und wenig überraschend: Bestimmte Teile des limbischen Systems, das unter anderem für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig ist, waren stark aktiviert.

Grafik zur Karaoke-Schlaflosigkeit-Studie

Rick Wassing

Ganz anders sah das aus, als sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen an lange zurückliegende Ereignisse erinnerten, die ihnen außerordentlich peinlich waren. In diesem Fall unterschieden sich die Gehirnreaktionen deutlich (siehe Bild oben rechts). Während der anteriore cinguläre Cortex, ein Teil des limbischen Systems, bei den Schlaflosen fast so aktiv war wie beim aktuellen Schamgefühl, verhielt er sich bei den guten Schläfern und Schläferinnen fast ganz ruhig.

Gute Schläfer haben Vergangenheit besser verarbeitet

„Diese Gehirnregion bleibt bei Menschen mit Schlaflosigkeit an die negativen Gefühle aus der Vergangenheit verknüpft“, erklärt Wassing. Gute Schläfer haben diese Vergangenheit offenbar besser verarbeitet: Sie erinnern sich zwar an die peinlichen Episoden ihres Lebens, werden von ihnen in der Gegenwart aber emotional nicht so aufgewühlt wie jene mit Schlafstörungen. Das beweisen laut Wassing auch andere Körperreaktionen. So schwitzen die Schlaflosen stärker, wenn sie sich an vergangene Schmach erinnern, wie Messungen des Leitungswiderstands der Haut zeigten.

Die unzureichende Verarbeitung unangenehmer Erlebnisse könnte der Grund sein, warum die Schlaflosen so schlecht Schlaf finden. Wobei „Grund“ etwas zu viel gesagt ist. Die aktuelle Studie hat lediglich einen Zusammenhang gezeigt – auf der einen Seite zwischen gutem Schlaf und Neutralisierung negativer Gefühle aus der Vergangenheit und auf der anderen zwischen Schlaflosigkeit und schlechter Verarbeitung. „Was Ursache und Wirkung ist, müssen zukünftige Studien über längere Zeiträume zeigen“, betont Wassing.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

Mehr zu dem Thema: