Warum Europa eine Festung ist

Traumata des Monotheismus und die Festung Europa. Der deutsche Kulturwissenschaftler Jan Assmann spannt einen historischen Bogen von Moses bis in die politische Gegenwart: Europa, so Assmanns These, habe seine friedensstiftenden Wurzeln vergessen.

APA: Sie haben gestern in Wien eine Vorlesung über die Moses-Figur im Denken Freuds und Schönbergs gehalten. Die beiden beschäftigten sich mit Moses in einer Zeit, in der der Antisemitismus in Europa radikal zunahm. Was bezweckten sie damit?

Jan Assmann: Bei beiden ist es eine Sache der Selbstanalyse - sie wollten sich über ihr Judentum klar werden. Während aber Schönberg Zionist war und eine ziemlich nationalistische Vorstellung verfolgte, lagen Freud politische Ziele völlig fern. Er wollte seine Theorie vom Vatermord und vom Monotheismus als Zwangsneurose darlegen. Dabei macht er Mose zum Ägypter - das macht man nicht leichten Herzens. Er war sich natürlich im Klaren darüber, dass das aus jüdischer Sicht eine unglaubliche Häresie ist. Aber er war einfach von seiner Theorie so überzeugt, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte.

Zur Person

Jan Assmann ist Ägyptologe, Kulturwissenschaftler und gilt als einer der bedeutendsten Intellektuellen Deutschlands. In seinen Forschungen hat er sich u.a. mit dem Phänomen des kulturellen Gedächtnisses beschäftigt. Am 6. Mai hielt er in Wien eine Freud Lecture: „Moses tragicus. Freud, Schönberg und der scheiternde Moses“.

Sie haben sich mit Freud und seinem „Der Mann Mose und die monotheistische Religion“ schon mehrfach auseinandergesetzt. Was hat er Ihnen über Mose beigebracht?

Meine Begegnung mit Freud datiert ins Jahr 1987. Er hat mir über Mose nichts beigebracht. Aber er hat mich mit der Frage konfrontiert, welche historischen Erfahrungen hinter der Entwicklung des Monotheismus stehen. Seine Antwort ist der Vatermord in der Urhorde. Meine Antwort sind die zeitgenössischen Erfahrungen ab dem achten vorchristlichen Jahrhundert, die absolut traumatisch waren. Vor allem, was die Vorherrschaft Roms betrifft. Diese Traumata haben sich in das Judentum, und darüber später in das Christentum und den Islam tief eingeprägt. Das Rom-Trauma liegt in der DNA des Monotheismus.

Jan Assmann beim Interview

APA/ROLAND SCHLAGER

Jan Assmann

Der Monotheismus hat einen Siegeszug angetreten - aber auch Gräben geschaffen und ausgegrenzt.

Der Monotheismus ist eine exklusive Religion, die zieht Grenzen. Sie hat zwar zunächst auch nationale Grenzen überwunden, aber viele andere - vor allem zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen - wurden umso schärfer gezogen. Da steckt viel Intoleranz drin.

Auch in der Gegenwart sind zahlreiche Konflikte religiös motiviert - zumindest an der Oberfläche.

Ja, wenn wir etwa an den Terrorismus denken, dann ist das im Kern natürlich ein politisches Problem. Er beschränkt sich auch nicht nur auf die monotheistischen Religionen, es gibt auch einen buddhistischen oder einen hinduistischen Terrorismus - immer steckt ein politisches Anliegen dahinter, eine Form von Nationalismus. Da wird die Religion gebraucht, um nicht zu sagen: missbraucht.

Warum eignet sie sich dafür so gut?

Weil Gott ein Trumpf ist, der alle anderen sticht.

Antisemitismus legt in Europa wieder zu. Und es gibt die Sorge, dass diese Entwicklung durch Einwanderung aus arabischen Ländern verstärkt wird - ein Argument, das ironischerweise ausgerechnet von Rechtspopulisten benutzt wird, um Stimmung gegen muslimische Einwanderer zu machen.

Dabei hat der arabische Antisemitismus mehr mit der Nazi-Propaganda zu tun, als man es heute vielleicht denkt. Es gab eine enge Beziehung zwischen NS-Proponenten und islamischen Religionsführern, etwa dem Großmufti von Jerusalem. Im Bemühen der Nazis, ihre Einflusssphäre auf den Nahen Osten zu erweitern, wurde die arabische Welt ideologisch infiltriert - und das hat Wurzeln geschlagen. Als ich anfing, in Ägypten zu arbeiten, wurde ich immer beglückwünscht zu meiner deutschen Herkunft, das war mir immer wahnsinnig peinlich.

Dazu kommt auch noch der Israel-Palästina-Konflikt.

Natürlich, das hat diese Ressentiments unheimlich verschärft. Aber was die Rechtspopulisten angeht, dürfte es mit ihrer Sorge um den Antisemitismus nicht weit her sein. Nationalisten haben stets diesen uralten Vorbehalt gegen die Juden als eine internationale Gruppe, fast schon eine „Bewegung“ oder sogar „Verschwörung“ - und es gibt immer noch Leute, die an so etwas glauben.

Sie haben viel zu kollektiver Erinnerungsarbeit publiziert - zeigt uns der Aufstieg des Rechtspopulismus, dass wir da nicht genug davon geleistet haben?

Ja, das hat mehr mit Vergessen, als mit Erinnern zu tun. Würden wir uns besser erinnern an das, was Europa durchgemacht hat, diese Geschichte von Vertreibung und Exil, dann hätten wir ein ganz anderes Verständnis für das, was jetzt passiert und würden davon nicht so überrumpelt werden. Die Leute, die das attackieren, was sich unter dem Stichwort Willkommenskultur entwickelt hat, die haben einfach vergessen, wie sehr wir alle als Europäer darauf angewiesen waren. Ich bescheinige den Rechtspopulisten also eher ein gerüttelt Maß an politischer Dummheit - und an Vergessen.

Kurz vor den Europa-Wahlen stehen wir wieder vor der etwas paradoxen Situation, dass sich viele Europäer zwar gerne stärker gegen das Außen - insbesondere gegen Einwanderung - abschotten wollen; aber dennoch auch die Identifikation mit Europa selbst mangelhaft ist.

Die europäische Identität ist blass geblieben. In Deutschland vielleicht am wenigsten, weil die Deutschen in der EU eine Chance sahen, sich von ihrem Schuldkomplex zu befreien. Das Deutschsein wird ja durchaus als schwere Last empfunden, davon konnte man sich als Europäer ein Stück weit entledigen. Aber es sind Fehler passiert. Europa muss aufpassen, dass es weiterhin im Zeichen der Integration und nicht der Distinktion steht. Wir können Europa nicht gegen die anderen definieren, es steht für diesen besonderen friedlich-integrativen Impuls. Die sogenannte Osterweiterung war ein Fehler - man hätte das als gemeinsames Projekt mit Russland machen müssen und nicht als imperialistischen Erweiterungsakt. Derzeit erleben wir aber auch, dass die „Festung Europa“ von außen mitgebaut wird: Trump, Putin und Erdogan haben Europa zum Feindbild erkoren.

Gemeinsam mit Ihrer Ehefrau Aleida Assmann haben Sie im vergangenen Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten. Was macht das mit Ihrem Schaffen?

Es macht etwas mit meinem Kalender. Der füllt sich mit Terminen, man lebt in einem Schaufenster, die Leute bedienen sich, man muss schauen wie man sich schützen kann. Im Ernst: Das was ich geschrieben habe, trägt wenig zum Frieden bei. Wir haben den Preis aber als Paar bekommen - wenn man uns addiert, kommt vielleicht etwas friedenstiftendes dabei heraus. Meine Frau, etwa mit Ihrer Arbeit zu Menschenrechten, hat den Preis viel mehr verdient.

Interview: Maria Scholl, APA

Mehr zu diesem Thema: